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30. Mai 2009

Es hat geregnet letzte Nacht. Klar – warum auch nicht? Mit den Ohropax in den Ohrmuscheln kriege ich aber nichts mit. Jetzt ist es zum Glück trocken, aber der Wind lässt immer noch nicht nach.

Ich frage die Wirtin der Northern Beaver Post, wie das Wetter werden soll und ob ich meine Wäsche waschen kann. Klar – sie zeigt mir den Waschraum mit Wasch- und Trockenmaschinen. Ich bräuchte “Loonies” sagt die resolute Mittvierzigerin. Für die Waschmaschine, den Trockner und das Waschmittel.

“Wheather’s gonna gett’n better! The wind isn’t usual this part of the year!”

Hah! Da ist es wieder. “Not usual!” Genausogut hätte sie sagen können: “Tja – normalerweise und seit vierkommazweimilliarden Jahren wäre Deine Entscheidung, von Nord nach Süd zu fahren richtig gewesen, aber dieses Jahr: Arschkarte gezogen!” Die Frage die sich mir stellt ist allerdings: Was hilft mir das? Es lindert die Pein in meinem Kopf, nicht aber die in meinen Beinen.

Als sie wieder raus ist, lasse ich den Automaten mit dem Waschmittel links liegen, dafür habe ich mein Bio-Spüli, was allerdings langsam zur Neige geht. Wäsche waschen, Körper waschen, Geschirr waschen – alles funzt, geniales Zeugs – Nummer drei auf meiner Top-50-Liste. Die Waschmaschine erinnert mich an den großen Bottich, in dem meine Großmutter früher auf dem Bauernhof Wäsche gewaschen, Wurst gebrüht und Marmelade gekocht hat. Nur dass die hier kein Feuer drunter anzünden müssen und das Rühren über einen Motor funktioniert.

Nachdem ich die Wäsche nun eine halbe Stunde allein lassen kann, gehe ich mein Zelt abbauen. Diese Prozedur gestaltet sich bei gleichem Wind wie gestern abend etwas einfacher als das Aufbauen. Gut so. Ich verpacke alles an seinen Ort – gewinne so langsam Routine darin. Ist wie bei der Bundeswehr früher: Auseinandernehmen, zusammenbauen. Auseinandernehmen, zusammenbauen. Auseinandernehmen, zusammenbauen… Egal was: Pistolen, Gewehre, Kanonen, Motoren, Ketten, Kochgeschirr, Feldküche, Lazarettzelte, alles. Und alles musste an seinen Ort. Millimetergenau. Damals fand ich diesen Teil der Dienstpläne ganz besonders absurd. Heute mache ich das jeden Morgen und jeden Abend freiwillig…

Die Sachen sind verpackt, die Wäsche ist fertig für den Trockner, ich werfe sie in die Trocknertrommel, einen Loonie in den Geldschlitz und gehe in den Frühstücksraum.

Der Barkeeper ist… – tja nun – “verschlossen” ist wohl diplomatisch genug. Immerhin höre ich ein gebrummtes “mornnn” als Antwort auf mein freundliches “Good Morning!”.

Ein Tisch ist mit einem Päärchen besetzt, der Rest ist leer. Es sind große Tische. Also frage ich die beiden, ob ich mich zu ihnen setzen könne. “Shure!” (was hier immer so wie ohne Vokale rüberkommt: “Shrrr!”).

Der Typ ist eine Mischung aus Cowboy, Trapper und Holzfäller, seine Frau ist indigener Abstammung. Ihn schätze ich auf über sechzig, sie auf unter vierzig. Hübsche Frau, Uriger Kerl. Ein Schneidezahn fehlt ihm ganz, der andere ist aus Gold.

Sie hätten schon von Scott (dem Barkeeper) gehört, dass hier ein “strange guy” eingecheckt hätte, der mit dem Fahrrad unterwegs sei.

Durch meine offene und freundliche Art gelingt es mir dann aber offensichtlich immer wieder, meine Ideen, Motive und auch Neugier so rüberzubringen, dass es dann doch eigentlich “normal” erscheint, mit dem Rad durch die Wildnis zu fahren.

Es fällt mir auch wirklich leicht, mich für diese Landschaft, diese Natur und auch für die meisten Menschen, die ich bisher traf, zu begeistern. Ich erzähle, quatsche, frage – komme ins Gespräch und bringe das dann auch ganz authentisch rüber.

So öffnen sich auch die Menschen mir gegenüber. Das ist immer wieder ein spannendes und berührendes Erlebnis. Warum kriegen das nicht alle so hin? Einfach sich öffnen, Interesse am anderen zeigen, ehrlich und selbst sein. Der Rest kommt von allein.

Ich frage, wo die beiden herkommen und warum sie hier sind. George hat sich zur Ruhe gesetzt, ihnen gehört der “Truck” draußen, mit dem Wohn-Anhänger dran. Sie gehören zu den “White Nomads”, die im Winter im Süden wohnen und im Frühsommer nach Norden fahren, um dort das Land zu genießen. Tiguaq – dreimal musste ich nachfragen, bis ich den Namen verstanden habe – hat inuitische Wurzeln, lebt aber schon seit Jahren in Kamloops. Die beiden genießen sich und das Leben – das wird mir in dem Gespräch klar. Wobei die Rollen klar verteilt sind: Er ist der Mann und sie die Frau. Ganz einfach. Zumindest für die beiden. Mir schwant, dass ich über “Gleichberechtigung” zwischen Mann und Frau neu nachdenken sollte. George und Tiguaq vermitteln zwar eine klare Rollenzuordnung mit dem Primat bei ihm, aber in ihrer Achtung und Fürsorge füreinander, der Anzahl Lächeln, die sie sich gegenseitig schenken, unterscheiden sie sich nicht im Geringsten.

Wir quatschen eine gute Stunde, zumeist über die Wildnis und die Tiere. George jagt auch, aber nur für den Eigenbedarf. Er erzählt, wie er mit einem ordentlichen Bowie-Knife junge Elche und Rehe zerlegt und fragt, ob ich denn auch so ein Messer dabei hätte. Ich habe nur meinen Leatherman, damit komme ich aus. Erstaunen. Der folgende Dialog geht in etwa so:

– Und was machst Du wenn Du einen Bären siehst?

– Ich bleibe stehen und klappe meinen Leatherman auf.

– Wie lang ist denn die Klinge?

– Rund acht Zentimeter.

– Ich würde nur mit einer Pistole oder einem Gewehr allein über den Cassiar fahren. Und wenn mit einem Messer, dann mit einer Klinge, die so lang ist…

"I´d recommend a knife like this..."

Er breitet die Arme ungefähr schulterbreit vor sich aus und streckt die Hände gerade vor, um mir seine Messer-Längen-Vorstellung zu vermitteln.

– Ich bin nahkampferfahren, der Bär nicht. Und im Nahkampf nutzt mir so eine lange Klinge nichts.

– Der Bär muss auch nicht nahkampferfahren sein. Er ist stark und sauschnell. Wenn er Dich angreift, mach Dir nichts vor. Ziel auf die Augen, Mund oder Nase. Das mag helfen.

Dass dieses Gespräch so anders läuft als all die anderen, die ich zuvor mit allen möglichen Leuten über die Bären führte, liegt wohl an der Tatsache, dass George und ich uns ernst nehmen. Wir müssen uns nicht belehren, uns nicht gegenseitig Angst machen und so zeigen, wie toll oder schwach wir sind. Wir müssen uns nicht gegenseitig bewundern und keine Bewunderung erheischen.

Mit dem Essen sind die beiden schon lange fertig und ich bin noch dabei, meine Glykogenspeicher für den Tag aufzufüllen. Mit viel Erzählen und langsam essen dauert’s halt eben. George steht auf, geht zu den Restrooms und zahlt danach an der Kasse.

Die neuen Freunde wollen weiter – wir verabschieden uns, wissend, dass wir uns nie wieder sehen werden. Schade sowas, aber notwendiger Teil der Dramatik einer Reise durch die Welt. “Unser gemeinsamer Geist verbindet uns.” sagt Tiguaq zum Schluss.

Ich esse in Ruhe auf, gehe zur Kasse und zücke meine Geldbörse. Scott, der Inhaber der Northern Beaver Post und grummelige Barkeeper erscheint irgendwie verändert, fast schon gerührt. Hmm…

Ich nähere mich inhaltlich vorsichtig dem Bezahlvorgang, ihn mit einem freundlichen Lächeln – der kürzesten Entfernung zwischen zwei Menschen – einleitend.

“This gentleman payed for you!” sagt er, meinem “Wanna pay” zuvorkommend. Ich schaue Scott verdutzt und leicht fragend in die Augen. “He says you will remember this all of your life.”

Hey – was für eine Idee! Jetzt sind wir beide gerührt. Scott doppelt. Recht hat er, George, der alte Trapper. Nie werde ich das vergessen. Und genau deshalb bin ich hier. Unterwegs. Lernen von anderen. Andere lehren. Das mache ich auch irgendwann. Ist das klasse? Ja!

Ich verlasse den Frühstücksraum mit einem kurzen “Bye!” und entlocke Scott noch ein ebenso kurzes Lächeln.

Nachdem ich meine trockene Wäsche in der Packtasche vorn links (“Software”) verstaut habe, verlasse ich die Northern Beaver Post auf dem Alaska Highway in Richtung Osten. Gleich nach einem Kilometer erreiche ich die “Junction 37”, die Kreuzung Alaska- / Steward-Cassiar-Highway.

I am here and you are and we are here and we are all togehter - I am the walrus (Beatles)

Ich denke nochmal über die ganzen Bären-Warnungen in Whitehorse und der Beaver Post nach und biege rechts ab. Der erste Blick nach Süden lässt erahnen, was da auf mich zukommt. Welliges Profil, schlechte Wegstrecke, rechts und links zehn Meter Sicherheitsabstand zum Wald für Autos und Tiere. Und der Wald erscheint irgendwie dichter als bisher. Gefühlt oder real – egal.

Cassiar-Highway: Erster Eindruck für die nächsten 720 Kilometer

Als erstes aber kracht es nach zweihundert Metern auf dem Cassiar mal wieder hinter/unter mir. Das Krachen kenne ich, das Wackeln des Hinterrads kenne ich, das Schleifgeräusch der Bremse an der Felge kenne ich.

Mmmmmerdäääh!!! Ich schreie mein Rad an.

Der zweite Speichenbruch. Wieder hinten, wieder direkt im Nippel.

Ich hänge die hinteren Bremsbacken der HS 33 aus und schiebe das Rad zurück zur Tankstelle, die direkt an der Alaska-/Cassiar-Kreuzung liegt.

Zum Glück haben die vom Icycle in Whitehorse mir zwei Ersatzspeichen für vorn und zwei für hinten mit Ersatznippeln mitgegeben.

Klasse: Ich habe noch nie in meinem Leben eine Speiche gewechselt, geschweige denn ein Laufrad zentriert. Und dann auch noch in dieser Landschaft, mit diesen Belastungen für das Rad.

Ich weiß nicht, was ich vom Tankstellenpersonal erwarte, aber ich gehe erstmal rein. Eine alte Lady mit Glasbaustein-dicken Brillengläsern versucht, mich zu identifizieren. Ich frage ob es hier einen Mechaniker gibt, einen, der vielleicht Erfahrung mit Motorrädern hätte.

Nein, gibt’s hier nicht. Ihr Enkel, ungefähr zwölf, ist interessiert. Ich frage, ob es wenigstens Pressluft für Autoreifen gibt, da ich keine Lust habe, meinen Reifen mit der 20-cm-Mini-Luftpumpe auf 3 Bar aufzupumpen. Ja – sowas gibt’s.

Der Junge kommt mit raus, stellt sich neben mich und beobachtet – er hat ja sonst auch nicht so viel zu tun. Der Autoverkehr um diese Zeit hält sich extrem in Grenzen und wer tanken mit rasten kombinieren will, fährt zur Beaver Post. Und der Radverkehr hier hält sich in noch engeren Grenzen.

Normalerweise bin ich ein analytisch denkender und planvoll handelnder Mensch. Bin schließlich Mathematiker und Informatiker. Problem wahrnehmen, Ursache-/Wirkung-Diagramm malen, alle möglichen Ursachen verifizieren, die wahrscheinlichste identifizieren, Plan erstellen, Maßnahmen ableiten und abarbeiten, Problem gelöst.

Voraussetzung für einen realisitischen Plan ist zumindest ein Stückweit Erfahrung. Und die habe ich mit Speichenbrüchen eben nicht. Also gehe ich intuitiv und möglicherweise iterativ ran. “Trial and Error” wie der gemeine Amerikaner so schön sagt.

Ich baue meine Packtaschen ab, stelle mein Rad auf den Kopf und beginne, die Rohloffschaltung zu inspizieren. Als erstes die externe Schaltbox ab. Gut. Dann den Schnellspanner öffnen. Ahhh – stimmt ja, da sind diese abschließbaren Steckachsen drin. Wo war jetzt nochmal gleich der Schlüssel – die “conditio sine qua non” für einen erfolgreichen Rad-Ausbau?

Zum Glück gleich da, wo ich ihn vermute: In der Werkzeugtasche unter dem Sattel. Somit folgt ohne Plan, aber intuitiv Schritt 1: Rad ausbauen, Luft ablassen (hoffentlich funktioniert die Druckluftpumpe dieser Tankstelle und der Pumpenkopf passt auf mein Ventil…), Reifen und Schlauch abnehmen und erstmal schauen.

Der Nippel der gebrochenen Speiche fällt gleich raus. Die Speiche selbst ziehe ich aus der Nabe. Die schwarze Ersatzspeiche von Icycle harmoniert zwar farblich nicht mit den verchromten Nachbarn, aber für heute stufe ich das in der Prioritätenskala etwas weiter ab. Ich stecke die Speiche durch das Nabenloch, führe sie – ojeh, wie denn jetzt die anderen Speichen kreuzen? – irgendwie so an den anderen Speichen vorbei, dass das in etwa so aussieht wie bei einer der gegenüberliegenden Speichen. Nippel von unten gegengesteckt, Speiche eingedreht, fertig. Mein Leatherman mit dem Zangenmaul leistet mir dabei wertvolle Dienste, da ich keinen Nippelschlüssel dabei habe. Wie einfach – daraus machen die Radbauer eine Wissenschaft?

Na gut, die Felge ist immer noch verzogen und müsste jetzt wohl von mir zentriert werden. Nun ist doch Schluss mit der Intuition – muss die Analytik ran: Wenn ich jetzt diese Speiche festdrehe, was passiert dann mit der Felge? Was muss ich mit den Nachbarspeichen tun? Wann muss ich aufhören zu drehen? Ich erinnere mich an das Hörbuch “Nada Brahma” von Joachim-Ernst Behrendt: Die Welt ist Klang! Er sagte, dass ein Geiger seine Saiten über die Akustik wesentlich exakter einstellen könne als über irgendeine auch noch so genaue Spannungsmessung oder Optik. Also schlage ich mit meinem Leatherman, den ich an diesem Tag in den Olymp meiner Top 50 erhebe, an die Speichen und merke mir den dabei entstehenden Klang. Klar – die neue schwarze Speiche klingt völlig entspannt. Also schraube ich so lange an ihrem Nippel, bis ihre Anspannung deutlich hörbar ist. Woher kenne ich das nur? Aber da nehme ich dann nicht den Leatherman…

Ding, ding, ding, ding, dong, ding. Spannung erhöhen. Ding, ding, ding, ding, däng, ding. Spannung erhöhen. Ding, ding, ding, ding, deng, ding. Noch ein bisschen. Ding, ding, ding, ding, ding. Gut.

Der schweigsame Junge schaut skeptisch.

Aber siehe da: Die Felge ist gerade. Ich drehe hier noch ein wenig, dort noch ein bisschen, bis alle Speichen gleich klingen. Ein Lächeln macht sich breit, ich genieße dieses Konzert – “Minimal Music”, eine eigene Kunstrichtung – nur für mich, am Anfang des Cassiar Highway.

Der Rad-Einbau geht leicht von der Hand, ich hänge die Bremse ein, lasse das Rad drehen, schaue genau auf den Abstand zwischen Felge und Bremse und bin glücklich. Er bleibt bei drehendem Rad immer gleich. Auch die Höhe der Felge bleibt gleich.

Der Kopf des Druckluftschlauchs der Tankstelle passt auf den Adapter meines Sklaverand-Ventils, den ich für solche Fälle ebenfalls in der Satteltasche habe, ich pumpe meinen Reifen nach Gefühl auf (ein Manometer gibt es nicht), gebe dem Jungen zwei Loonies als Dankeschön für Luft und Gesellschaft und breche auf – Richtung Süden.

Ein unbestimmtes Gefühl des Misstrauens und der Sorge darüber, dass ich für die nächsten knapp 800 Kilometer bis zum nächsten größeren Ort nur noch eine Ersatzspeiche an Bord habe, kommt in mir hoch.

Aber – um es vorweg zu nehmen – das Hinterrad hält bis Vancouver. Ohne Seiten-, ohne Höhenschlag!

Dafür macht jetzt die Rohloff-Schaltung wieder arge Probleme. Die ersten sieben Gänge rutschen immer häufiger durch. Ganz großes Kino in den Rocky Mountains, wenn ein Sechzig-Kilo-Gefährt ab fünf Prozent Steigung geschoben werden muss, da fünfzig Prozent der zugesagten Gänge nicht funktionieren. Und natürlich: Es funktionieren genau die fünfzig Prozent nicht, die ich besser gebrauchen könnte.

Ich stelle fest, dass es nicht die Natur ist, die hier gegen mich ist, sondern eher die Technik. Meine Technik. Dieses Fahrrad nervt. Von Sorglosigkeit eines Welt-Reiserades keine Spur.

Hey – Alternativencheck: Ich finde mich damit ab und sehe es positiv: Eine hohe Frequenz mit wenig Krafteinsatz pedalieren kann ich immer. Aufgrund des fahrradspezifischen Kraftmangels in meinen Beinen muss das ja auch meine Methode sein. Meine Triathlon-Kollegen sagen immer, dass ich mal mit ordentlich Kraft fahren müsse, um Saft in die Beine zu kriegen. Dann würde ich auch schneller werden und endlich mal an die Fünf-Stunden-Marke beim Ironman-Radsplit ranfahren. Und Krafttraining heißt beim Radeln: Niedrige Frequenz mit hohem Einsatz fahren. Dann mache ich das eben jetzt! Scheiß auf die ersten sieben Gänge, Familie Rohloff! Ihr nicht, Ihr kriegt mich nicht zur Aufgabe! Ihr macht mich sogar schnell für die nächsten Wettkämpfe. Aber ein Dankesschreiben werde ich nicht aufsetzen.

Ein Schild am Wegesrand mahnt, dass ich meinen Treibstoffvorrat überprüfen sollte. 100 Kilometer sind es noch bis zur nächsten Tankstelle. Ich rechne kurz durch – mein Vorrat würde ungefähr drei Tage reichen. Wasser muss ich eben unterwegs finden und gegebenenfalls filtern. Also fahre ich unbeeindruckt weiter.

Checkit out, Man!

Die Seen hier sind – im Gegensatz zu Alaska – nicht blau, sondern grün. Kleiner, dafür mengemäßig mehr. Meine Mittagspause lege ich an einem ein, dessen Wasser so klar ist, dass ich sogar die Äste und Zweige der Bäume erkennen kann, die auf dem Grund liegen. Leider macht mir der Wind mal wieder einen Strich durch die Fotografen-Glück-Rechnung. Wenn die Oberfläche spiegelblank wäre – was gäbe das für Motive! Aber auch so bin ich beeindruckt und halte die Kamera drauf. Schließlich ist es ein wunderbares Ritual, abends im Zelt nochmal über den großen Drei-Zoll-Monitor meiner Kamera den Tag bildlich Revue passieren zu lassen.

Luxus ist, wenn der Wind schöneres verhindert!

Der Nachmittag bringt nicht so viel – ich gewöhne mich an den Cassiar und seine Landschaft, denke mal wieder, dass so etwas nur zu Fuß oder mit dem Rad möglich ist.

Es rollt bei bewölktem Wetter so auf und ab: Wellig, würde ich sagen. Insgesamt 80 Kilometer in viereinhalb Stunden – bei dem Gegenwind ganz in Ordnung.

Irgendwann habe ich keine Lust mehr auf das Rauschen in meinen Ohren. Ich will jetzt in Ruhe mein Zelt aufstellen, mir mein Essen kochen und dann in den Schlafsack. Ein Parkplatz etwas abseits der Straße lädt zum Nachtstätten-Prüfen ein. Er ist ziemlich groß, geschottert, die Reifenspuren verraten, dass nicht alle großen Trucks den Cassiar meiden. Bärensichere Müllcontainer erinnern mich wieder an das hiesige Gesprächsthema Nummer eins. Da ich heute auf der ganzen Fahrt vielleicht fünf oder sechs Autos sah, wird sich der Verkehr auf diesem Parkplatz wohl in engen Grenzen halten.

Etwas abseits des Parkplatzes – und von diesem aus auch nicht einsehbar – finde ich eine kleine erhabene Lichtung, wie gemacht für mein Drei-Personen-Zelt. Dies ist mein “Homeland for one Day”.

Kurz nach dem Abendessen fängt es an zu regnen. Ein Schauer nur, aber heftig. Als der Regen aufhört, gehe ich nochmal mit dem Fotoapparat raus und genieße es, diese unglaublichen Momente für mich festzuhalten.

Auf der einen Seite zieht eine düstere Regenwand über die Berge ab, auf der anderen Seite hat sich ein Wolkenskelett am Himmel gehalten, wird von der tief stehenden Sonne angemalt.

Abendstimmung nach Regen am nördlichen Cassiar

Wenn die Sonne Wolken anmalt...

Im Schlafsack trage ich meine Tagesetappe in die Karte ein, schreibe die Stichworte des Tages in mein Buch, schaue mir nochmal die Bilder des Tages an, stecke mir die Stöpsel meines Telefons in die Ohren und höre noch ein wenig Musik, bevor ich einschlafe.

29. Mai 2009

Mist! Es regnet!

Dann war das Tropfenprasseln auf meinem Zelt doch nicht nur geträumt. Gerade morgens, so kurz vorm richtigen Aufwachen, sind meine Träume so extrem realistisch – manchmal freue ich mich dann, aufzuwachen, manchmal würde ich gerne wenigstens die nächsten zehn Minuten noch weitererleben – Kino fast mit Anfassen.

Ich schaue aus dem Zelteingang: Der schöne blaue Himmel von gestern abend ist weg. Blau wird zu grau, keine Besserung in Sicht.

Where have all the sunshines gone?

Nun denn, koche ich mir eben auf dieser Reise erstmalig etwas in der Apsis meines Zelts – so wie das in den Outdoor-Magazinen und Globetrotter-Katalogen immer mit lachenden, frisch rasierten und gekämmten Männern in toller und teurer Kleidung dargestellt wird. Die haben selbst bei Scheißwetter immer gute Laune – ich nicht. Kein Wunder, die haben ja auch immer diese tollen Traumfrauen dabei, die lächelnd und tolle Bücher lesend im Schlafsack liegend darauf warten, dass der Traummann ihnen das Essen zubereitet. Oder sich selbst als Apperitiv oder Epilog des Essens andienen.

Ich habe solche Frauen hier draußen noch nie gesehen. Und ich bin schon ziemlich lange mit Zelt und Fahrrädern unterwegs. Wenn ich meine Gedanken so beobachte, zu lange.

Mein Earl-Grey-Tee riecht nach Bananenschalen. Offensichtlich sollte ich ihn in irgendwas Luftdichtes einschließen und nicht mit den Bananen in die Sigg-Boxen stopfen. Nicht mal einen heißen Tee kann ich mir heute morgen also kochen. Egal – koche ich mir meinen Haferbrei. Meine virtuelle Begleiterin liegt immer noch im Schlafsack und freut sich auf Haferpampe. Und ich sollte mich rasieren, damit ich auch Globetrotter-Katalog-tauglich bin und den Hauch einer Chance habe, falls die reale SIE doch heute hier anklopft.

Nein. Rasieren ist Luxus. Außerdem frage ich mich, was SIE denn machen würde, wenn ein Bär hier anklopfen würde. Oder wenn die Mücken es nicht zulassen, dass ich mich draußen duschen möchte und lieber die Drei-Feuchttücher-Variante im Zelt wähle, um eine Basis-Hygiene sicherzustellen. Und die Mücken werden sicher noch kommen. Überhaupt ist dieser “Urlaub” Verzicht auf jede Form von Komfort. Selbst ein Stuhl erhält in einem 3-Personen-Zelt im Regen einen neuen Wert, wenn ich hier heute wohl den ganzen Tag verbringen werde. Außerdem drehen sich die Gedanken im Wesentlichen um die Fragen nach dem nächsten Trinkwasser, wie lange das Essen noch reicht, wo ich mal wieder frisches Obst kaufen kann, etc.

Nun braucht der Kocher allerdings erstmal volle Konzentration, damit ich nicht mein Zelt abfackele. Mein Haferbrei ist besser als sein Ruf. Mit Trockenobst, Nüssen, Erdnussbutter und Honig schmeckt er sogar mit Wasser gekocht, ohne Milch. Er ist nahrhaft und hält lange satt. Es ist lediglich etwas schwierig, hier im Norden Amerikas Hafergebinde in Reiseradler-tauglichen Dimensionen kaufen zu können. Der Frühstücks-Haferbrei, den sie in 500-Gramm-Packungen anbieten, ist eher so eine süße Masse, die kaum noch was Natürliches hat. Hatte ich am ersten Tag mal ausprobiert – ekelhaft, wie süß die hier alles machen. Reines “Oat-Meal”, also nur Haferflocken, scheinen die hier eher als Tierfutter zu sehen und verkaufen es in 5-Kilo-und-aufwärts-Säcken.

Zum Glück gibt es in den großen Läden die Bulk-Food-Abteilungen, wo man sich alles, was sich schütten lässt, aus großen Fässern oder kleineren Behältern beliebig zusammenstellen und -mixen kann. So habe ich mein eigenes Studentenfutter mit Nüssen, Trockenobst und weißen Schokoladenraspeln (die ich abends immer aus den Beuteln rausnasche und die ich dann morgens im Müsli vermisse), mein eigenes Müsli mit Vollkornflocken und manchmal ein paar Goodies in Brockenform, die ich als gesundheitsorientierter Mensch und väterliches Vorbild hier verschweigen muss.

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Was ja schön ist an so einem Regen-/Ruhetag, ist, dass ich alle möglichen und unmöglichen Gedanken sofort aufschreiben kann und damit später mal authentisch nachvollziehen kann, wie was in jener Situation war und was ich gedacht und gefühlt habe.

Eines meiner Lebensziele ist, die Glocke von Schiller auswendig zu lernen. Wenn ich nicht genau hier und jetzt – im Regen am Teslin Lake mit nichts anderem zu tun – anfange, wann dann?

Warum eigentlich das Lied von der Glocke? Weil mein Vater sie schon auswendig lernen musste – und das auf der früheren Hauptschule? Weil es eine mentale Herausforderung ist? Weil es eine posthume Hommage an meinen Englisch-Lehrer ist, den ich ehre und bei dem wir noch in der 13.2 schon Shakespeare-Zitate aus dem Original-Othello auswendig lernen mussten? Weil Schiller ein genialer Freak war und seine Leistung in mir viel mehr zum Schwingen bringt als die seines bewunderten frankfurter/weimarer Zeitgenossen?

Schiller beruft sich auf und genießt die fundamentalen Wahrheiten, Werte, Ansichten des menschlichen Miteinanders. Freundschaft, Liebe, Arbeit, Altwerden – Wenn ich Schiller lese, bleibe ich beim eigenen Nachdenken gelassen und freue mich darüber, dass ein anderer Worte für meine Gedanken gefunden hat. Goethe seziert. Goethe geht auf den Grund – und das in epischer Breite. Eigentlich nicht möglich. Mir schon lange nicht. Vielleicht bin ich Goethe deshalb so fern – weil ich eben auch niemand bin, der andere bewundert, nur weil sie etwas anderes besser können als ich.

Dafür hätte Goethe nie eine Fahrrad-Transalp mit seiner Italien-Reise verbunden und überlebt.

Aber ich.

Schiller zum 200. Geburtstag zu Ehren (aus Wikipedia)

Egal – ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.

Laotse würde dazu sagen: “Auch das längste Gedicht beginnt mit der ersten Strophe.”

Also gut.

“Das Lied von der Glocke

vivos voco – mortuos plango – fulgura frango

(Die Lebenden rufe ich – die Toten beklage ich – die Blitze breche ich)

Fest gemauert in der Erden – Steht die Form aus Lehm gebrannt.

Heute muß die Glocke werden! – Frisch, Gesellen, seyd zur Hand!

Von der Stirne heiß – Rinnen muß der Schweiß,

Soll das Werk den Meister loben; Doch der Segen kommt von oben…”

Festgemauertindererdenstehtdieformauslehmgebrannt – einatmen – heutesolldieglockewerdenaufgesellenseidzurhand – Mist, “AUF, Gesellen” oder “FRISCH, Gesellen”? – nachgucken – “FRISCH, Gesellen”.

Nochmal: Festgemauertindererdenstehtdieformauslehmgebrannt – einatmen – heutesolldieglockewerdenfrischgesellenseidzurhand – einatmen – vonderstirneheissrinnenmussderschweiss – einatmen – solldermeisterdaswerk… – gucken – solldaswerkdenmeisterloben – ? Was meint der alte Schiller denn damit? Egal, erst lernen, dann nachdenken – solldaswerkdenmeisterlobendochdersegenkommtvonoben.

Erste Strophe sitzt.

Ich lese mir das ganze Lied von der Glocke nochmal durch. Zehn Jahre hat Schiller für das Werk gebraucht. Da hätte er locker fünfzig Glocken gießen können. Aber er hat ja auch gesagt, dass er sich die Arbeit für dieses lyrische Meisterwerk für die schönen Stunden aufgehoben hat. Und das waren in seinem schöpferischen Lebensteil nicht so viele. Seinem Zeitgenossen Goethe hat er’s angekündigt, als Schiller bereit war. Vielleicht hätte er die Glocke gar nicht zuende geschrieben, wenn er seinem verehrten Kollegen gegenüber nicht so eine große Klappe gehabt hätte. Das ist wie mit dem Rauchen-aufhören – wenn Du’s jemandem ankündigst, den Du ehrst (also nicht irgendeinem beliebigen Kumpel), dann hältst Du Dich viel eher dran, als wenn Du’s nur für Dich beschließt.

Mit meinem Panamericana-Projekt habe ich das ja auch so gemacht – nur war mein Goethe meine Jungs.

Jetzt hab ich endlich raus, was ich mit Schiller und meine Jungs mit Goethe gemeinsam haben.

Letztlich vergleicht Friedrich (ich darf ihn doch so nennen?) den Prozess des Glockengießens mit dem Leben eines ehrbaren Mannes. Und Ehre ist ein starkes Thema für mich. Und im Leben eines ehrbaren Mannes ist eine der schicksalhaftesten Entscheidungen die Wahl der richtigen Frau (ja gut, umgekehrt ist’s genauso – aber ich schreibe jetzt mal aus meiner Sicht). Das hat mir vor zwanzig Jahren schonmal ein damals knapp 90-jähriger amerikanischer Freund gesagt. Da war ich gerade frisch verliebt, fast verheiratet. Er sollte Recht behalten – allerdings nicht im ihm eigenen wohlwollenden Sinne.

Beim Glockengießen müssen Kupfer und Zinn sich vereinen. Wer ist Mann, wer Frau? Wer ist spröde, wer weich? Wie funktionierte die Vereinigung bei mir? Hab’ ich nur die guten Zeichen gesehen, die schlechten verdrängt?

Na, das wird eine philosophische und erkenntnisreiche Reise…

Deshalb mag ich Friedo. Er beschreibt mit seinem Lied ein schönes Leitbild, eine Orientierung in einer orientierungsarmen Welt. Eine Glocke als gleichermaßen akustischen wie symbolischen Nordpol.

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Mittlerweile ist es drei Uhr nachmittags und es ist ruhig geworden um mich herum. Kein Plätschern mehr, kein Prasseln auf dem Zeltdach. Ich wünschte, ich hätte Zeit ohne Ende für diese Reise. Dann könnte ich jetzt einfach meinen Gedanken noch ein wenig nachhängen oder sie weiterspinnen.

Aber ich hab’ noch’n Termin in Vancouver, Ende Juni. Für heute bedeutet das, dass ich jetzt nach Teslin fahre und versuche, an einer Tankstelle einen Pickup zu kriegen, um die verlorene Zeit per Auto aufzuholen.

Ich packe meine Sachen, erstmalig rolle ich das Zelt nass ein. Wenn das meine Mutter wüsste – “Junge, wer wäscht denn jetzt Deine Sachen? Sieh zu, dass immer alles ganz trocken ist, bevor Du’s von der Leine nimmst, sonst gibt’s Stockflecken und den Gestank kriegste nie mehr raus!”

Aber mein Hilleberg ist aus Plastik und nicht aus Baumwolle. Und das muss es abkönnen und außerdem wird’s in spätestens sechs Stunden wieder ausgerollt und aufgestellt. Hoffentlich zum trocknen.

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Guten Tag, Radler, und herzlich Willkommen zurück auf der Straße!

Zwiebelprinzip gegen Kälte, Schee und Regen

Shit, ist das kalt heute. Es fängt an zu schneien. Horizontal von vorn. Das nagt. Vierzig Kilomenter lang. Als ich bei Teslin mal wieder einen Anstieg hochschiebe, hält Justin vor mir an. OK – so ein wenig habe ich wohl die Hand nicht ganz reingezogen, als ich den Wagen von hinten kommen hörte.

Justin ist Förster, kommt aus Watson Lake, war in Whitehorse auf einem Lehrgang und ist jetzt wieder auf dem Heimweg. Und Justin hielt an, weil er müde ist vom Lehrgang-Abschluss-Abend gestern und jetzt froh ist, die nächsten zweihundert Kilometer mit einem durchgeknallten Deutschen neben sich ein kleines Pläuschchen zu halten.

Justin in seinem Pickup - ich suchte ein Taxi, er Abwechslung: Win-Win!

Der Schnee im Mai sei schon mal üblich, sagt er. Der starke Wind nicht. “It’s not usual!”, die neunte oder zehnte. Wenn ich mal einen Film über diese Reise drehe, nenne ich ihn “It’s not usual!”

Justin ist als Mann des Waldes und Kanadier natürlich Jäger und Fallensteller. Er strahlt dabei eine solch natürliche Selbstverständlichkeit aus, dass ich vergesse, kritisch nachzufragen. In Deutschland sind Jäger ja total verpönt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wer gegen Jäger ist, dürfte auch kein Fleisch essen. Lieber ein Stück Fleisch von einem bis zum Tod wild lebenden Reh als von einem nach EU-Norm eingepferchten Schwein oder Rind. Der CO2-Fußabdruck oder der Wasserverbrauch für ein Kilo Rindfleisch liegen weit über der Toleranzschwelle eines nachhaltig denkenden und handelnden Menschen.

Aber das ganze Halali und Drumherum der Jäger erinnern mich eher an kleine Kinder als an seriöse Menschen, die verantwortungsbewusst Leben beenden, um anderes Leben zu sichern.

Egal, Justin mag ich. In Kanada ist denen das deutsche Jägerbrimborium auch völlig fremd. Gut so – das lässt mich auch locker bleiben.

Justin lebt so wie ich es mir auch für mich vorstellen könnte. Leiter einer kleinen Außenstation der Yukon-Forstbehörde, auf sich gestellt, mit Freundin und Hund, in einem kleinen Holzhaus auf einer Lichtung im Wald.

Ich frage ihn nach den Haken seines Lebens, nach Langeweile, nach Frust, nach seinen Zielen.

Er ist kein Schwärmer, muss mir ja nichts vorgaukeln – umso mehr beeindrucken mich seine ehrlichen Antworten.

Die Wilderer sind sein Problem, der Umgang der Menschen mit den Bären. Die Missachtung der Gesetze der Natur, die Abrodung der Wälder durch die großen Konzerne. Er kommt mit den Wiederaufforstungsarbeiten nicht nach. Kein Wunder – ist in Yukon der Sommer doch ziemlich kurz und das Klima somit nicht gerade ideal für schnell wachsende Nutzhölzer. Die Bäume, die hier abgeholzt werden, sind über -zig und hunderte von Jahren gewachsen. Sie eignen sich ja nicht mal als Bauholz – so verkrüppelt und schlank sind die Stämme. Papier sei das Gold, zu dem die Bäume verarbeitet würden.

Ich beschließe, jetzt ganz klein in mein Tagebuch zu schreiben, um so Papier zu sparen.

Gegen acht Uhr setzt Justin mich kurz vor der Kreuzung Alaska-/Cassiar-Highway an der Northern Beaver Post ab, einem RV-Park, der auch Einzelzeltplätze anbietet.

Wir tauschen unsere Mail-Adressen aus und ich verspreche, ihm Bilder zu schicken und in Kontakt zu bleiben.

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Ich beschließe, mein Zelt hier aufzustellen – zumal ich mal wieder eine heiße Dusche genießen möchte und meine Wäsche in einer Maschine waschen und trocknen lassen kann. Bei der aktuellen Wettervorhersage nehme ich den unnötigen Energieverbrauch dafür in Kauf.

Die Frau an der Rezeption ist nett, zum Thema Wetter sagt sie: “It’s not usual!” und meint vor allem den Wind um diese Jahreszeit. Aber dafür hätten wir auch keine Mücken momentan. Wie war das mit dem Teufel und dem Beelzebub?

Erstmalig muss ich versuchen, mein Zelt im Sturm aufzustellen. Das ist gar nicht so einfach – dabei habe ich mit dem Hilleberg ein sehr Aufbau-freundliches Zelt. Nicht auszudenken, was wäre, wenn ich erst das Innenzelt aufbauen und dann das Außenzelt drüberwerfen müsste. Ich bin immer mehr begeistert von meiner Überlebenszelle und erhebe sie in den Olymp der Top 50 Produkte meines Lebens.

Ich muss die nächsten Tage nochmal nachdenken, welches denn die anderen 49 sind.

Top 50 Produkt: Alte Blechschachtel aus den 50ern (aus Wikipedia)

Jetzt ist mir das zu spät.

Der Wind reißt an der Zeltwand und will nicht, dass ich einschlafe.

Dafür nehme ich Produkt Nummer 2 aus den Top 50: Ohropax.

Ich stopfe sie mir ins Ohr, bin zufrieden, dass jetzt Ruhe ist, ich nur noch 48 der Top 50 finden muss, Justin kennengelernt und 40 Kilometer im Schneesturm geschafft habe und morgen auf den berühmt-berüchtigten Cassiar-Highway abbiegen kann.

Well done, my friend! Good night – sleep tight.

28. Mai 2009

Vom Marsh Lake geht’s heute zum Teslin Lake, einen mehr als 140 Kilometer langen See. Auch der ist wohl noch zugefroren – kein Wunder, ich bin hier auf rund 700 Metern über dem Meeresspiegel.

Kalt ist’s, aber die Sonne scheint.

10 Meter Randstreifen zum Schutz der Tiere des Waldes

Jetzt bin ich so langsam mit mir allein – bisher war ja irgendwie immer noch alles ganz spannend und abwechslungsreich. Die Gedanken fangen an zu fließen, ich habe mich an mich gewöhnt.

Ein Bach als Denkmal?

Während der Tacho bei heftigem Gegenwind eine viel zu niedrige Geschwindigkeit anzeigt, frage ich mich, wie andere Reiseradler es hinkriegen, täglich 120 bis 150 Kilometer zu fahren. Kalkuliert hatte ich das ja auch. Aber ich denke, ich sollte heute abend im Zelt nochmal neu rechnen, Banff- und Jasper-National-Park zu den Akten schieben.

Zwischen Marsh Lake und Teslin Lake ein No Name Lake

Muss ich mich überhaupt an anderen orientieren? An dem, was andere am besten können? Nö. Ich sollte viel lieber überlegen, was ich am besten kann und das zum Maßstab erheben.

Was ist denn mein Bestes? Und wann? Ich bin jetzt knapp fünfzig und habe den Zenit meiner körperlichen Leistungsfähigkeit sicher schon vor dreißig Jahren überschritten. Verschwendet habe ich mein körperliches Potential damals. Mit Nichtstun. Bisschen Handballspielen, bisschen Karate. Viel Motorradfahren, viel Party mit allem was dazu gehört. Wirklich verschwendet? Was wäre die Alternative gewesen? Leistungssport und jetzt keinen Bock mehr auf Bewegung oder Knochen kaputt? Hmm… OK – doch nicht verschwendet.

Ich bin schon stolz auf das, was Geist und Körper momentan leisten können. Und genau jetzt ist die Zeit reif für das was ich tue.

Und das ist mein Bestes. Genau jetzt. Früher waren es eben vier Tore in einem Spiel oder mehr als 45 Grad Schräglage in der langgezogenen Rechtskurve zwischen Bad Hersfeld und Eschwege oder zwei Mädels in einer Woche oder die 14 Punkte in Mathe.

Dann das Studium, dann die Bundeswehr, nebenbei an der Fernuni studiert, dann der erste Job mit viel Engagement – geistig und zeitlich. Immer mein Bestes gegeben. Auch im zweiten Job – vom Headhunter gelockt und böse reingefallen. Gemerkt, dass mein Bestes nicht immer auch das Beste für andere ist. Oder anderen nicht reicht.

Ehe, Kinder, Fernstudium fertig, neuer Job. Wieder mein Bestes gegeben. Haus gekauft, die Erträge meines Besten in die Familie gesteckt. Wieder gemerkt, dass andere anders entscheiden, ob mein Bestes gut ist. Scheidung. Mein Bestes verschwendet?

Ekelhafte Scheidungsverhandlungen, windige Anwälte, ignorante Richter, Lügen und Betrug setzen mir zu, versperren mir den freien Blick auf das was ich am besten kann. Mein Bestes definieren jetzt andere. Über Zahlbeträge.

Ich merke, dass ich noch nicht alles vollständig aufgearbeitet habe. Dass ich auf einer Suche bin nach dem, was jetzt mein Bestes ist. Ich bin froh, dass ich mich entschieden habe, hierher zu fliegen und diesen Trip durchzuziehen.

Ja, diese Entscheidung war richtig.

Aber eigentlich ist jede Entscheidung, die man trifft, richtig. Zu dem Zeitpunkt, zu dem man sie trifft. Sonst hätte man sie ja nicht getroffen. Wenn sich Rahmenbedingungen, Menschen, Wissen und Werte später ändern und man mit dieser Erkenntnis jetzt anders entscheiden würde, dann macht das die Ursprungsentscheidung doch nicht zur Fehlentscheidung. Eher zur Herausforderung, an der ich mich weiterentwickeln kann.

Nietzsche sagt, dass die Welt nur in unserem Kopf existiert. Also liegt es an unseren Köpfen, zu entscheiden, ob wir falsch oder richtig entscheiden.

Ich überquere den Teslin River bei Johnsons Crossing. Ein paar alte Autowracks stehen an der Kreuzung. Der hier vom Alcan abzweigende Highway 6 führt über Ross River in Richtung North West Territories in die Mackenzie Mountains und dort ins Nichts. Am liebsten würde ich abbiegen. Ins Nichts. Was würde passieren? Die Jungs haben sich abgenabelt, Lucy kenne ich nicht. Ja ja, natürlich wären ein paar Leute auch traurig. Aber die meisten Emotionen würden wahrscheinlich dort entstehen, wo der Geldfluss versiegt.

Nein, ich glaube, jetzt tue ich meinen Freunden Unrecht. Eine Lücke würde schon entstehen, wenn ich ins Nichts verschwände. Geht es eigentlich nur mir so, dass ich mir vorstelle, was meine Welt denken und empfinden würde, wenn ich nicht mehr wäre? Mein Tod als Szene eines Schauspiels in meinem Kopf.

Dabei lenkt mich doch meine Sehnsucht nach dem Leben. Und zwar nach rechts. Weiter auf dem Alcan-Highway, weiter Richtung Süden.

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Ankunft am Teslin Lake

Der Teslin Lake ist auch noch zum großen Teil zugefroren – wie erwartet.

Nach 102 Kilometern und fünfeinhalb Stunden Nettofahrzeit finde ich einen verwaisten Campground direkt am See. Ich stelle mein Zelt auf, wasche mich im See, koche mir ein leckeres Abendessen und gehe mit der Kamera nochmal runter zum See.

Das Haus am See...

Ich lege mich auf die Steine und schaue durch den Sucher.

Genieße.

Fotografieren ist Malen mit Licht. Licht taxieren, Ausschnitt wählen, fokussieren, einatmen, Luft anhalten, Zeigefinger langsam runter drücken, das typische Klack des Spiegels hören und fühlen, mit dem Ausatmen gewiss sein, diesen Moment für den Rest des Lebens archiviert zu haben.

Ich wälze mich in Regenklamotten am Strand. Schieße mit der Kamera auf dem Bauch, dem Rücken, der Seite liegend um mich rum. Rufe laut “Ja! Ja! Ja!”.

Im Zelt kuschel ich mich in meinen Schlafsack, markiere mein Tagwerk in der Reisekarte, schaue mir nochmal die Bilder an, grinse, schalte die Kamera aus, lege mich mit zufrieden auf den Rücken und gebe mich der Müdigkeit hin.

27. Mai 2009

Nach dem Frühstück verabschiede ich mich ein wenig wehmütig von den schrägen Typen und den netten Mädels und biege links auf den berühmten Alaska-Highway ab.

Kalt ist es, ich habe ziemlich starken Gegenwind und schaffe heute nur 60 Kilometer in vier Stunden Nettofahrzeit.

Der Marsh-Lake leuchtet in vielen Farben

Der Marsh-Lake ist noch zugefroren und der Wind kühlt sich nochmal zusätzlich so richtig schön ab, wenn er über die eisige Oberfläche weht. An mir will er sich dann wieder aufwärmen – den Gefallen tue ich ihm aber nicht, Gore sei Dank. Ich hoffe, dass der Wind morgen nachlässt. Wenn das jeden Tag so geht, dann wird das ein noch vierwöchiger Kampf gegen den unsichtbaren, aber ehrlichen Gegner.

Wenn Bäche schlängeln...

Die Geschichten über die Bären, die Peter, Flo und Micha erzählten, geben mir zu denken. Im Visitor Information Center von Whitehorse nehme ich die hiesige Broschüre über die braunen und schwarzen Gesellen mit.

“How to Stay Safe in Bear Country” heißt sie und ist anschaulich und nachvollziehbar geschrieben.

Intelligente und höchst individuelle Tiere sind das. Wie wir Menschen, hat jedes Tier seine spezifische, merkliche Identität. Es gibt eine breite Masse an “normalen” Tieren, die scheu sind und eigentlich eher ihre Ruhe haben wollen. Aber an den Rändern dieser Statistik gibt es Bären mit psychischen Pathologien – das ist mir allerdings bei den Menschen auch nicht fremd. Mein Problem ist, dass ich nicht einschätzen kann, wie breit diese Ränder sind.

Jede Region bietet Informationsbroschüren über Bären an

Das Zusammenleben von Bär und Mensch basiert mehr auf Furcht als auf Verständnis und Respekt. “Have you seen the bears? Where’s your rifle, man? I wouldn’t go into the woods without a gun like that” – verbunden mit einer Ausbreitung der Arme auf Maximallänge – das ist das, was ich von fast allen Menschen höre, denen ich begegne.

Zum Glück werden die zuständigen Behörden von Biologen und Zoologen beraten und nicht vom “gemeinen Volk”. Insofern hat sich auch die Einstellung zum Schutz von Bären geändert – waren früher Abknall-Orgien an der Tagesordnung, wenn Bären durch Müll oder Fütterungen zu den Menschen gelockt wurden, so sind diese Tiere heute gesetzlich geschützt und Verhalten verboten, was zu gefährlichen Situationen führen kann. Ein neuer Denkansatz sozusagen. Ich finde das gut.

Auch die Aufklärung in den offiziellen Broschüren findet in dem Duktus statt, dass niemand das Risiko eines Angriffs durch Bären ausschalten kann, es aber durch eigenes Verhalten erheblich reduzieren kann. Und das Risiko eines Bärenangriffs ist ja immer auch ein Risiko für den Bären selbst – es gibt genügend bewaffnete Bärenjäger, die nur auf Alibis warten um dann mit ihren lauten und stinkenden Quads in die Wälder zu fahren und eine Angst-getriebene Hetzjagd auf die Tiere zu starten.

Ich versuche, meine Gedanken und meine Einstellung zu diesen Raubtieren zu sortieren. Was mir Sorgen bereitet, ist, dass wir Menschen auf deren Speiseplan stehen. Was mich gelassener macht, ist, dass wir Menschen erst an neunter oder zehnter Stelle stehen. Ganz oben stehen Lachs, dann Forelle und im Frühjahr frisches Gras. Dann kommen Wurzeln, Baumharz, Beeren, Kleinviecher, Jungtiere aus dem Wald und erst weiter hinten ich.

Hier oben ist es so kalt, dass die Bären noch Winterschlaf halten

Aber der Reihe nach:

  • Bären sind intelligent und neugierig.
  • Sie können so gut sehen wie Menschen und wesentlich besser hören.
  • Der Geruchssinn von Bären ist außerordentlich gut – rund 100.000 mal feiner als unserer.
  • Muttertiere haben einen extremen Schutzinstinkt ihren Jungen gegenüber.
  • Meister Petz ist uns in Punkto Geschwindigkeit in allem überlegen: Er kann schneller laufen, besser klettern, ausdauernder und fixer schwimmen als wir. Flucht ist also zwecklos. Und auch mit einem 60-Kilo-Rad werde ich schwerlich die V-max eines Bären von knapp 50 km/h übertreffen.
  • Die Suche nach Nahrung prägt den Alltag eines Bären mit erster Priorität. Wenn sie aus dem Winterschlaf erwacht sind, haben sie Hunger und wenn sie dann wieder ihr Normalgewicht erreicht haben, ist es auch schon wieder an der Zeit, sich Reserven für den nächsten Winterschlaf anzufressen.
  • Wenn Bären größere Säugetiere (auch Menschen) angreifen, dann versuchen sie, diese mit Prankenhieben auf Kopf und Nacken zu töten.
  • Das Verhalten von Bären ist im Wesentlichen vorhersehbar.
  • Es ist ratsam, sich weder einem Bären zu nähern noch vor ihm zu flüchten. Beide Verhaltensweisen lösen Kampfreflexe bei den Tieren aus – entweder Angriffs- oder Abwehr-motiviert.
  • Wenn man einem Bären begegnet, dann sollte man einfach stehen bleiben und seinen Platz behaupten. Wenn der Bär aufmerksam wird, sollte er mit ausgebreiteten, winkenden Armen angesprochen werden – mit ruhiger, respektvoller Stimme.
  • Wenn ein Bär angreift, wird es ernst. Nicht wegrennen sondern Waffen sortieren. Wenn ich etwas zum Hinwerfen habe (Rucksack, Lenkertasche, Schlafsack, etc.), dann werfe ich es vor mich um die Aufmerksamkeit des Bären von mir abzulenken. Die meisten Angriffe stoppen kurz vor dem Körperkontakt.
  • Wenn der Kopf hochgehalten und die Ohren aufgestellt sind, kann das einer der seltenen Fälle sein, in denen der Bär den Menschen als Opfer und Nahrung sieht. Dann heißt es: Kämpfen! Mit aller Kraft und allen Mitteln. An diesem Punkt hätte ich es mit einem Bären zu tun, der mich fressen will. In der Yukon-Broschüre heißt es: “Sei so aggressiv wie möglich, konzentriere Dich auf Gesicht, Augen und Nase des Bären. Gib nicht auf! Es kann sein, dass Du gerade um Dein Leben kämpfst…”

Ich komme zu folgendem Fazit: Respekt ja, Angst nein.

Auf so manchen Karate-Kumite-Lehrgängen hatte ich es mit übergewichtigen, großen Kampf-Bären der menschlichen Rasse zu tun und hatte mich immer ganz gut behauptet. Aufgrund mehrerer Rippenbrüche kenne ich auch meine neuralgischen Stellen und weiß sie abzudecken. An Schläge auf Kopf oder Nacken kann ich mich nicht erinnern – was mir in einem Nahkampf mit den Bären zugute kommen könnte.

Sollte ich wirklich in einen Kampf mit einem Schwarzbären oder einem Grizzly verwickelt werden, so muss ich so wendig wie möglich sein. Nachdenken ist in solchen Situationen erfahrungsgemäß nicht mehr drin, da das Adrenalin die Synapsen im Gehirn blockiert. Somit kann ich mich nicht erst mit irgendwelchen Gebrauchsanweisungen für Pfefferspray auseinandersetzen oder mal eben sondieren, wo denn der Wind herkommt, wenn der Bär herkommt.

Ich verlasse mich auf meinen eigenen Körper und die 10 Zentimeter lange Klinge meines Leatherman.

Mir wird bei diesen Gedanken auch klar, dass es für mich gut ist, diese Reise allein zu unternehmen.

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Nun ist’s aber auch gut mit den Schauergedanken – ich liege jetzt im Zelt, mitten im Wald, es wieder mal so wunderbar ruhig, dass ich diese Stille förmlich hören kann. Wenn ich immer nur denken würde, was alles passieren könnte, dann würde ich jetzt nicht hier liegen und das Leben so genießen. Ich glaube, dass alle wirklich großen Projekte, Ideen, Konstruktionen, die wir heute bewundern und von denen wir profitieren, von den meisten Zeitgenossen vorab als aberwitzig, unmöglich, gefährlich, spinnert abgetan wurden. Das ist doch die große Herausforderung des Lebens: Zu entscheiden, was für einen wirklich wichtig ist, das dann zu verfolgen und umzusetzen und alles andere hinten anzustellen. Wen interessieren dann die Unkenlieder des Zweifels der anderen?

Kuscheln in der Kälte - Freude auf den Daunenschlafsack

Ich werde mich jetzt in meinem Daunenschlafsack einkuscheln, noch ein wenig nachdenken und so langsam und gemütlich einschlafen.

26. Mai 2009

Leicht verkatert wache ich auf. Gut, dass ich mir mein Frühstück nicht erst erlegen oder sammeln muss. Selbst den Kocher aufstellen und bedienen wäre mir jetzt zu gefährlich. Das was dann zustande käme, wahrscheinlich kaum genießbar. Also gibt’s nochmal Kaffee und Muffins. Wer weiß wo ich morgen früh liege und was ich da frühstücken muss.

Nur mal so: Der Yukon ist vor meinem Zelt noch teilweise zugefroren...

Kalt ist’s draußen.

Ich sammel meine Dreckwäsche ein und gehe zu den Waschräumen. In den Waschbecken vor den Toilettengebäuden, die für die Wäsche gedacht sind, liegen Speisereste vom gestrigen Abend – nicht allzu appetitlich. Vielleicht wirken matschige Reiskörner und Ketchupreste ja desinfizierend im Trikot – in jedem Fall wäre die Wirkung berechenbarer als die allheilversprechende Nano-Technologie mit der Versilberung von Plastikfasern für unsere Haut.

Aber ich will hier keinen Feldversuch starten und wasche meine Wäsche kurz im Handwaschbecken des Toilettengebäudes durch. Für die Wäsche die geruchsärmere Variante, für die Nase nicht. Vor allem dann nicht, wenn einige der Zeltplatz-Gäste gestern abend ordentlich getrunken haben und nun auf dem Klo ihr “Coming-Out” zelebrieren.

Normalerweise wird das olfaktorische System beim Menschen alle 60 Tage erneuert, wobei alte Riechzellen absterben und durch neue ersetzt werden. Bei mir dauert das heute morgen genau die 10 Minuten, die ich hier im Klogebäude brauche, um meine Wäsche einmal kurz durchzuwaschen.

Ich hänge meine Wäsche an einer mitgenommenen 5-mm-Reepschnur auf, die ich zwischen zwei Bäumen gespannt habe. Dann gehe ich zur Rezeption, den Duft frischen Kaffees die neue regio olfactora streicheln lassend.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Wenn ich morgens gleich nach dem Aufstehen schon irgendwas geleistet habe – egal ob Hausarbeit, Spanischlernen oder Sport – dann ist das Frühstück hinterher nicht nur Nahrungsaufnahme und Genuss sondern auch noch eine erste Belohnung. So fangen gute Tage an.

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Die Rezeption ist wie ein Taubenschlag. Hier gehen alle ein und aus, wollen zahlen, telefonieren, wissen wo der Rasenmäher steht, Post abgeben, kaffeetrinken, muffinsessen oder einfach nur quatschen. In Verbindung mit einem der netten Mädels hinter der Theke wähle ich die letzten drei Optionen. Eine Quebequoise ist sie, studiert irgendwas Marketing-mäßiges und zeigt sich erstaunt, dass ich sie auf die Animositäten zwischen den englischsprechenden Kanadiern und den französischsprechenden Kanadiern anspreche. Dass es Abspaltungstendenzen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen gäbe. Ich erlöse sie aus ihrer Verlegenheit indem ich ihr ein wenig über die deutsche Wiedervereinigung erzähle, paradoxerweise verbunden mit Abspaltungstendenzen der Bayern und der Sachsen in Deutschland, der Südtiroler in Italien, der Korsen in Frankreich und der Basken in Spanien. Welche Volksgruppen zusammenkommen wollen, aber nicht dürfen oder auseinandergehen wollen, aber nicht dürfen. Und dass das manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen – bis hin zu Kriegen – führen kann.

Irgendwie scheint das für sie ganz interessant zu sein, aber nicht aus ihrer schönen bunten Marketing-Welt. Ich wirke wohl wie Herr Oberlehrer und denke mir, dass es den Amis mit ihren ganzen Marken und den damit einhergehenden vereinheitlichten Produktqualitäten ja eigentlich auch völlig egal ist, ob eine Kleinstkultur sich von einer anderen Kleinstkultur abspaltet oder zwei zusammenkommen oder welche Kultur auf der Welt sie platt machen. Coca Cola und McDonalds sollen letztlich überall gleich schmecken, sozusagen Geschmack suprakulturell vereinheitlichen. Disney und Hollywood vereinheitlichen Märchenverständnis und Harley Davidson den Mythos von Freiheit. Pampers vereinheitlicht die Erstbehandlung von Kacke und Google die Berieselung mit Werbung. Monsanto löscht Pflanzenkulturen aus und Lockheed muslimische.

Vielleicht ist das ja sogar Frieden stiftend: Wenn wir auf der Erde alle nur noch ein einziges Verständnis von Kultur haben und somit nur noch eine einzige Kultur – warum sollten wir dann noch Kriege führen? Nicht Politiker sollten die Geschicke dieser Welt bestimmen, sondern die Chefs der großen Markenmultis! Die wissen was wir wollen, wie wir notfalls zum Glück gezwungen werden können. Was soll so ein armer Inder auch mit sauberem Wasser, wenn er doch viel einfacher an eine Coke gelangen kann und sich somit nicht nur selbst sondern auch noch eine Firmenzentrale in Atlanta beglücken kann? Win-Win-Situation nennt der Betriebswirt so etwas.

Huxley hat das 1932 schon hervorragend treffend beschrieben – wir werden zu “Stabilität, Frieden und Freiheit” gezwungen. Aber woher soll eine kanadische Marketingstudentin “Brave New World” kennen?

Ich glaube, jetzt habe ich den Eindruck extremvertieft: Ein Deutscher, der hierher kommt, um Rad zu fahren, während die Bären aus dem Winterschlaf erwacht sind, MUSS verrückt sein. Und dieser hier ist es definitiv.

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Micha und Flo sind jetzt auch wach. Gegen drei heute nacht haben sie dann per Internet und Skype einen Motorradladen irgendwo in Südhessen gefunden, der ihnen den Ketten-/Ritzel-Satz per Express nach Whitehorse schickt.

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Nochmal vorbei an der Klondike - heute mit Sonne

Ich mach mich auf den Weg, mein Fahrrad abzuholen. Unterwegs mache ich noch Halt im Visitor Information Center, um mir Infos über Straßenzustände und Waldbrände auf meinem Weg Richtung Süden zu besorgen. Vor den Kartenständern treffe ich Uwe, meinen Sitznachbarn vom Hinflug. Uwe stieg in Whithorse aus, während ich nach Anchorage weiterflog. Er ist regelmäßig im Sommer hier, hat seinen Pickup mit Wohn-Aufsatz bei Freunden stehen und hilft diesen dafür bei irgendwelchen Bauprojekten.

Zuletzt half er beim Ausbau der Takhini Hot Springs und die will er mir nun zeigen. Was soll’s – hole ich mein Rad eben später ab und bleibe noch eine Nacht in Whitehorse. Ich steige in sein Auto und wir fahren am Yukon entlang, biegen auf den Klondike Highway ab und kurz darauf in den Wald zu den Hot Springs.

Uwe erzählt mir von seiner Firma, die er in Deutschland verkauft hat und von deren Geld er jetzt lebt. Große Autos hatte er, Geld verprasst ohne Ende. Jetzt lebt er eher einfach, besinnt sich auf das, was das Leben wirklich schön sein lässt. Er möchte sein Wohnmobil noch fit machen, da seine Tochter demnächst hoch kommt – mit ihr will er den Dempster hochfahren, bis Inuvik. Zeigen will er ihr die Schönheit der Wildnis, über 700 Kilometer Schotterpiste, unterbrochen nur durch zwei Tankstellen. Näher kommen will er ihr. Wissen wie sie ist. Die Standard-Geschichte aufarbeiten: Hochzeit, Kinder, Karriere, Scheidung. Auf der Strecke bleibt die eben auch die Beziehung zu den Kindern.

Miles Canyon mit Robert Lowe Bridge

Ich denke an meine Tochter und bin ruhig. Sie ist jetzt vier – eine Woche nach ihrer Geburt habe ich sie das letzte mal gesehen. Vielleicht fahre ich mit ihr auch irgendwann mal den Dempster hoch. Wie ist das, wenn sich Vater und Tochter das erste Mal begegnen, wenn sie vielleicht schon in der Pubertät ist? Oder noch später? Wird sie die Entscheidungen, die Missverständnisse zwischen Vater und Mutter verstehen? Akzeptieren? Verarbeiten?

Die Hot Springs selber sind nett gemacht, eine familäre Athmosphäre umgibt die Anlage. Das warme, sprudelnde Wasser tut meinem Rücken gut – Uwe und ich sitzen im Becken nebeneinadner und schweigen eine Weile. Das ist ein gutes Zeichen: Reden kann man mit jedem, schweigen nur mit wenigen.

Hinterher schmeckt das Bier wieder und Uwe setzt mich nach einem Abstecher zum Miles Canyon später wieder in Whitehorse ab.

Vom Miles Canyon hat Whitehorse seinen Namen: Die Wellen der Stromschnellen des Yukon River sahen aus wie weiße Mähnen auf den Hälsen von Pferden. Im Miles Canyon selbst starben zu Zeiten des Goldrausches viele Menschen, die auf Booten und Flößen hier hoch kamen. Die Basaltsteine rechts und links an den Ufern ragen bis zu 20 Meter senkrecht aus dem Wasser und lassen ein Anlanden nicht zu. Wer da in den Stromschnellen kentert, ist verloren.

An den Wänden kam aus Stromschnellen niemand hoch - heute ist der Yukon gezähmt

Heute ist der Fluss gezähmt. Wär ja auch gelacht, wenn die Natur uns bestimmen wollte, wann wer stirbt. Ein paar Kilometer weiter flussabwärts haben sie einen Damm gebaut, um Whitehorse mit Strom zu versorgen und den Touristen eine Bootsfahrt auf dem Yukon zu ermöglichen. Wieder Win-Win.

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Bei Icycle hat Jack persönlich mein Rad wieder repariert – es soll jetzt zwischen den einzelnen Speichen des Hinterrads keine 2% Torsionsspannungsunterschied mehr geben. Ich weiß zwar nicht, ob das so sein muss, aber es hört sich einleuchtend an. Ich frage Jack nach einer Ersatzspeiche mit Nippel – grinsend zeigt er auf zwei Stück, die er schon mit Isolierband an den Rahmen geklebt hat. Pfiffig drauf, der junge Kerl. Es macht Spaß, mit Profis zu arbeiten.

Ich zahle und frage, ob es eine Kaffeekasse gibt. Mit diesem Begriff kann Jack nichts anfangen und ich versuche dieses Stück deutsche Kultur zu erklären. Er versteht nur, dass das eine Büchse für Trinkgeld sein muss. Ich lasse es gut sein – wahrscheinlich wird in deutschen Radläden alles mögliche aus der Kaffeekasse bezahlt, nur kein Kaffee. So gebe ich einfach noch etwas “Tip” und fahre wieder zum Zeltplatz.

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Unterwegs sehe ich auf einer Eisscholle mitten auf dem Yukon zwei Weißkopfseeadler – sich um einen Fisch streitend. Eine halbe Stunde lang beobachte ich dieses Schauspiel. Leider habe ich nur ein 85-mm-Objektiv dabei und es wird langsam dämmrig. Gute Bilder kann ich so also nicht schießen.

Totzdem halte ich einfach mal drauf.

Amerikanische Wappentiere im Clinch

Whitehorse Central Station

Gegen 23 Uhr bin ich wieder am Zelt und entscheide, mich gleich schlafen zu legen – morgen früh geht’s mit dem Rad weiter.

25. Mai 2009

Gegen neun wache ich auf. Aus dem Zelt blickend sehe ich, dass ich am Ufer des Yukon liege – geschützt vor Wind und Wetter durch Nadelbäume. Sehr schön. Ich stehe auf und betrachte mein Rad – ziemlich verstaubt, das Teil – muss es wohl noch waschen bevor ich den hiesigen Radladen aufsuche.

Ich gehe zur Rezeption des Zeltplatzes, um meinen Stellplatz zu zahlen und einen heißen Kaffee zu trinken. Wahrscheinlich haben die auch wieder diese leckeren Muffins, die man hier überall kriegt.

Ja. Haben sie. Kaffee und Muffins werden langsam meine Favoriten zum Frühstück und auch so – unterwegs – als Belohnung in den Pausen.

Robert Service Campground – so heißt das hier. Die Mädels in der Rezeption kommen aus dem Osten Kanadas und wollen hier im Sommer leben und Geld verdienen. Total nett, hübsch, ein wenig schüchtern. Auch wenn ich mit meiner Reife und der damit einhergehenden Gelassenheit ganz zufrieden bin und sie nicht mehr eintauschen möchte – es gibt Situationen, da wäre ich gern mal wieder so zwanzig Jahre jünger.

Jetzt bin ich in Kanada angekommen – Traum vieler Möchtegernauswanderer. Ist hier irgendwas anders als in Alaska? Zunächst erstmal die Landschaft. Die Weite Alaskas ist einem alpineren Eindruck gewichen.

Und die Menschen? Schlecht zu vergleichen – In Anchorage im Hostel herrschte eine ähnliche Athmosphäre wie hier auf dem Campground. Locker, easy goin’.

Ich frage nach einem Radladen in der Nähe und bekomme unisono von allen Anwesenden das Wort “Icycle” zur Antwort. Quartz Road.

Philipp aus Franken fragt nach meinem Befinden. “Bist mippm Rrrodl underrrwegens? Hobich frrrührrr oach g’macht. Heuerrr gedds nimmrrr…” Philipp ist ein altersloser Auswanderer, der irgendwie schon seit 50 Jahren unterwegs ist. Alleingänger, hat eine Tochter in Vancouver, die er aber nicht mehr sehen darf. Spricht Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch und Russisch fließend (mit fränkischem Einschlag). Russisch, weil seine letzte Freundin eine Russin war – jetzt lernt er eine der athapaskischen Sprachen der First Nations, weil seine jetzige Freundin entsprechender Abstammung ist. Er sieht sie selten, da er lieber allein unterwegs ist. Aus dem “Haus unserer Väter” habe ich gelernt, dass das für die Frauen der Inuit “normal” ist, wenn Ihre Männer wochenlang auf Robbenfang sind, sie aber dann auch schon mal andere Männer ins Bett lassen. Für Philipp kein Problem. Er schläft ja auch nicht immer im gleichen Bett.

Flo und Micha kommen in die Rezeption – langsam wird’s voll. Die beiden sind mit ihren Motorrädern unterwegs, wollen hoch nach Prudhoe Bay. Micha fährt eine Africa Twin, seine Kette ist aber ausgelutscht, die Ritzel abgefahren und nun fehlt der Kraftschluss. So sitzen sie hier fest und skypen und telefonieren in Deutschland rum, um an einen Ketten-Ritzel-Satz zu kommen. Denn Honda hat die Africa-Twin in Kanada nie verkauft und so gibt’s hier auch keine Ersatzteile. Flo schwört auf seine R 1150 GS mit Kardan – das einzig wahre. Die 1200er ist schon wieder Mist, da sie zu viel Elektronik drin hat. Einmal trocken gefahren, kannst Du nachfüllen wie Du willst – das Ding springt dann nicht mehr an, weil die Elektronik denkt, der Tank sei noch immer leer. Musst Du zum Händler, der ein “format c:/” eintippt. Ich frage mich selbst mal wieder nach dem Unterschied zwischen Glaube, Wissen und Dogma. In jedem Fall muss ich mir wegen solcher Dinge keine Gedanken machen.

Eine von deren Speichen könnte ich gebrauchen. Aber wahrscheinlich passt’s nicht. Und die BMW hat Leichtmetallräder.

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Museumsschiff S.S. Klondike in Whitehorse am Yukon

Nach einer guten Stunde quatschen schiebe ich mein Fahrrad am Yukon entlang zum Radladen, der am anderen Ende der Stadt liegt. Unterwegs grüßt die “S.S. Klondike”, ein Raddampfer aus dem letzten Jahrhundert und erinnert mich daran, wie gemächlich es noch vor kurzem zuging, wenn von “Transport” die Rede war. Eigentlich ganz sympathisch für einen Radler wie mich. Aber das Drumherum erinnert mich an die eigentliche Immobilität der Amis: “Easy Access and R.V. Parking” – bloß nicht zu weit laufen, bloß keine Treppen steigen. Am besten direkt aus dem Motorhome ins Restaurant. Man könnte meinen, die Besucher des Museumsschiffes könnten dessen Betreiber verklagen wenn sie mit einem Herzinfarkt auf dem Weg vom Parkplatz zum Schiff oder auf der ansteigenden Rampe zusammenbrechen. In jedem Fall muss ich mir wegen solcher Dinge keine Gedanken machen.

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“icycle sport” – “Cool”, würden meine beiden Jungs spontan sagen, wenn sie mit mir den Laden betreten würden. Ohrringe in/an allen Körperteilen, Tätowierungen vom Kopf über den Hals nach unten gehend und ein breites “How’dy – what’s goin’on?” Ein junger Kerl taucht zwischen den ganzen Kona-Kultbikes auf, die ausschließlich auf Bergabfahren ausgelegt sind. Als Bergsteiger weiß ich: Wenn Du auf einem 45 Grad steilen Gletscher ausrutschst, beschleunigst Du fast so schnell wie im freien Fall. Wenn Du auf so einem Downhill-Bike sitzt und es laufen lässt, auch. Ich frage mich nur: Wie kommen die mit diesen 20-Kilo-Monstern die Berge hoch?

Ich frage mich auch: Wie wollen die hier ein Riese-und-Müller-Reiserad aus Darmstadt und eine Rohloff-Nabe aus Kassel reparieren?

Ich zeige auf mein Hinterrad und erkläre mein Malheur. “No problem!” grinst mich Jack, der junge Werkstattleiter, an: “I’ve got a Rohloff at my winter-bike – great technology, german engineering!”. Da die Winter hier lang und hart sind, vertraue ich meiner Rohloff immer mehr und fühle mich bestätigt.

Jack fragt mich allen ernstes ob es denn auch passen würde, wenn er mir eine schwarz lackierte Speiche einbauen würden – neben den verchromten, die schon drin sind. Als ich ihn nach der Alternative frage, grinst er auch.

Morgen kann ich es wieder abholen.

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Auf dem Rückweg gehe ich erstmals in so einen großen amerikanischen Supermarkt. Das was ich immer für ein Gerücht hielt, bewahrheitet sich auf groteske Weise: Es gibt Einkaufswagen mit Sitz und Elektromotor, auf denen 150-und-mehr-Kilo-Fleischberge sitzen, um Chips, Bier und sonstiges Junkfood aus den Regalen zu den Kassen zu befördern. Einem helfe ich sogar, eine Tüte Katzenfutter aus dem untersten Regalfach in den Korb dieses seltsamen Gefährts zu legen. Als er weiterfährt und ich ihm nachschaue, denke ich, dass der Sitz für solche Menschen zu schmal ist und das erinnert mich irgendwie an meine Satteltaschen…

Nächste Überraschung: Es gibt richtig gutes Essen in kanadischen Supermärkten. Frisches Obst und Gemüse in Bio-Qualität, Bulk-Food zum selber Zusammenstellen von Studentenfutter, Muffins in allen möglichen und unmöglichen Variationen, frischer Fisch, Knoblauch und Gewürze für heute abend – ich freue mich schon auf mein erstes selbstgekochtes Gericht mit frischen Zutaten. Auch kann ich meine Vorräte für die nächsten Tage aufstocken: Honig, Mandelmus, Nüsse, Rosinen, Hafer, Reis, Nudeln und Beef Jerky.

Sogar aus Nordhessen kommen die Goldsucher...

Auf dem Parkplatz sehe ich ein Auto mit Kennzeichen “ESW”. Ich erinnere mich an die Italien-Urlaube mit meinen Eltern. “Kuckt mal, da ist einer aus Eschwege! Winkt mal!” höre ich meine Mutter rufen.

Ich schlendere durch die Straßen dieses netten Städtchens und setze mich in die Sonne – in einem Straßencafé, aus dem gute, jazzige Rockmusik nach draußen klingt.

Da alle Tische belegt sind, frage ich eine freundlich aussehende Frau, ob ich mich zu ihr setzen dürfe. “Sure!” – als wäre meine Frage allein schon eine Beleidigung. An meiner Aussprache merkt sie, dass ich kein Kanadier sein kann. Und ein Amerikaner auch nicht. Und das ist eine gute Grundlage für ein Gespräch. Hetti organisiert das hiesige Musik-Festival und die Jungs, mit denen sie hier am Tisch sitzt, spielen in einer der lokalen Bands, die an dem Festival teilnehmen. Ziemlich cool nicken auch sie mir zu. Ein paar Meter weiter setzt sich ein junger Kerl an einen Tisch, holt seine Gitarre raus und fängt an, Donovan und solche Singer-/Songwriter-Stücke zu spielen. Welcome back in the Seventies!

Ich erzähle Hetti, dass ich bereits wunderbare Fotos geschossen hätte und die gern nach Hause mailen würde – verbunden mit der Geschichte, die ich bereits erzählen kann. Außerdem müsste ich noch meinem Radhändler und dem Hersteller die Leviten lesen.

Hetti fackelt nicht lange, lässt mich meinen Kaffee austrinken, verfrachtet mich in ihr Auto und fährt mich zum Organisationsbüro des Musikfestivals. Dort kann ich mich an einen der freien Rechner setzen, mein Zimmernachbar wird kurz informiert und ich habe zwei Stunden Zeit. Hetti hat noch “a few things to do” und holt mich später wieder ab.

Ich kann meine Fotos am 19-Zoll-Monitor begutachten und meine E-Post schreiben – hier die an Riese und Müller, den Rad-Hersteller:

guten tag,

ich hatte ihnen vor meiner abreise nach alaska und yukon von meiner nach 1.500 km verschlissenen kette auf einem 2007er intercontinental mit rohloff geschrieben. das darf an einem 4.000 euro rad nicht passieren.

nun ist bei diesem rad nach genau 1.997 km eine hinterradspeiche direkt im nippel gerissen (s. foto). das war auf dem glatten und asphaltierten glenn-highway in alaska aus heiterem himmel – ohne schlagloch, ohne stein oder sonstwas – und ich konnte die ersatzspeiche nicht montieren, da ich die restspeiche nicht aus dem nippel bekam. ich musste per anhalter bis nach whitehorse in canada trampen, wo nun mein rad zur reparatur steht.

ich bin hochgradig unzufrieden!!!

bezeichnenderweise steht drei speichen weiter das schild ‘handcrafted by rm-wheelteam’. wissen sie, was ich mit diesem team am liebsten machen wuerde?

der mechaniker in whitehorse sagt, dass die speichen moeglicherweise mehr als 15% voneinander unterschiedlich gespannt sind – und an der stelle, wo meine speiche gerissen ist, passiert das normalerweise nicht. ich habe ihm gesagt, er soll das ganze rad auf verlaesslichkeit checken und austauschen, was ihm nicht gefaellt!

ich will jetzt runter nach vancouver auf dem cassiar hwy. wenn das rad dort ausfaellt, bin ich geliefert, da dort um diese zeit nix los ist – ausser den baeren! ich hoffe, dass die kiste nun haelt!

lassen sie demnaechst ihre controller aus dem spiel, wenn sie ein rad konstruieren und bauen! sie koennen doch kein weltreiserad mit billigschrott aus fernost ausstatten!!! die kette ist nur so stark wie das schwaechste glied.

ich erwarte nun eine stellungnahme der geschaeftsfuehrung!

mit nicht mehr freundlichen gruessen aus yukon

joerg gondermann

Nach zwei Stunden E-Post-Schreiben (mit der amerikanischen Tastatur muss ich mich erst noch anfreunden) und Fotos begutachten kommt Hetti wieder und holt mich ab. Ich lade sie zu Kaffee und Kuchen ein, was sie ungewöhnlich findet, aber dankbar annimmt.

Wieder eine dieser Begegnungen, die vom Wert des Augenblicks leben. Keine Erwartungen, keine Ansprüche, “just being together” – und das mit gemeinsamer Freude an der kurzen gemeinsamen Zeit. “Good bye, here’s my mailadress, nice to meet you.” Und gut. Vielleicht schreibe ich ja doch mal.

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Jetzt genieße ich die Abendstimmung in diesen Höhengraden – blauer Himmel, rotes Licht von der untergehenden Sonne. Die Luft ist klar durch die vorangegangenen Schauer. Ich hole die Kamera raus und fotografiere. Fotografieren ist malen mit Licht.

Zurück auf dem Zeltplatz treffe ich Flo und Micha wieder. Wir sind Platznachbarn, kochen und essen gemeinsam. Die beiden haben’s richtig gemacht: Ausgestiegen, mit ein paar Euros und Dollars in der Tasche und den Moppeds raus aus dem Sozialgefüge, rauf auf den Dalton Highway. Das Problem, das die beiden nur haben, ist: Geldmangel. Sie müssen bald arbeiten. Das sollte ihnen allerdings nicht allzu schwer fallen, da sie Waldarbeiter sind und die hier immer gesucht werden – besonders jetzt, im Frühjahr. Leider sind Waldarbeiter bei uns eher gute Jungs, die nachhaltig arbeiten. Hier sind’s meistens böse Jungs, die Zellstoff für unsere Hochglanzmagazine beschaffen müssen.

Die beiden kamen den Cassiar Highway hoch, den Weg, den ich runter Richtung Yellowhead und Vancouver will. Was ich denn gegen die Bären mit hätte fragen sie mich. Dutzende gäb’s auf dem Cassiar – jetzt, nach dem Winterschlaf kämen sie raus und suchten Futter, bisschen hungrig wahrscheinlich. Fünf bis zehn Meter Abstand nur wären das zwischen Straße und Bären – da könnte man gut sehen, wie groß die Viecher wirklich werden können.

Ich schreibe das mal der fortgeschrittenen Stunde zu und dem bisherigen Bierkonsum. Promillepegel und Bärengefahr verhalten sich wohl direkt proportional zueinander. Mein Glück ist, dass sich Promillepegel und Angstpegel umgekehrt proportional zueinander verhalten. Über den Rest des Abends hülle ich in den Mantel des Schweigens…

24. Mai 2009

Heute habe ich meinen Kilometerrekord geschafft: 769! Von Chistochina am Glenn Highway bis nach Whitehorse in Kanada. Rund 80 Kilometer mit dem Rad, den Rest mit einem dieser Riesentrucks.

Nach kalter Nacht und warmem Frühstück fahre ich bei schönstem Wetter los. Wegen der Kälte vergesse ich, mir die Hände und die Waden mit Sonnencreme einzuschmieren. Das rächt sich. Bereits nach zwei Stunden merke ich den Fehler.

Ich ziehe mir die lange Hose und die dicken Handschuhe an. Aber auch das verdirbt mir meine Laune nicht – die Weite dieser Landschaft ist unvergleichlich.

Wolken als Werk des Windes

Ein Berg in der Ferne wirkt wie ein Spoiler: Die warme Luft aus Osten wird nach oben abgelenkt, sie kondensiert in den oberen Schichten und es bildet sich ein Schweif über dem Berg. Einzigartiges Naturschauspiel. In solchen Momenten bin ich froh, das Fahrrad als Verkehrsmittel gewählt zu haben: Ich kann meine Klamotten dranhängen, habe ein Tempo, das mich ausreichend schnell für die Reiseziele und ausreichend langsam für die Natur sein lässt. Ich bin den Elementen direkt ausgesetzt und kann den Wechsel von Tageszeiten und Landschaften stetig beobachten.

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Irgendwann höre ich ein ungutes Knallgeräusch hinter mir. Als hätte jemand ein unter Spannung stehendes Stahlseil durchgeschnitten. Ich fühle, dass die Hinterradbremse bei jeder Radumdrehung einmal kurz an der Felge schleift. Scheibenkleister – Speichenbruch.

“Macht nochmal eine Inspektion” sagte ich kurz vor der Abreise zu meinem Radhändler. Die Räder seien gut ausgewuchtet und zentriert, sagten sie. Die Rohloff-Nabe würde ja dafür sorgen, dass die Räder symmetrisch eingespeicht werden und damit ein Speichenbruch absolut unwahrscheinlich wäre.

Das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Bis Tok sind es noch rund 60 Kilometer und das ist der nächste Ort. Wenn ich weiterfahre, knallt bald die nächste Speiche, da das komplette Hinterradsystem auf sich ausgleichende Spannungen ausgelegt ist.

Speichenbruch, 700 Kilometer vor dem nächsten Radladen

Ich lerne, dass es nicht reicht, einfach nur eine Ersatzspeiche mitzunehmen sondern auch einen passenden Nippel, da die Speiche direkt im Nippel gebrochen ist und ich den Rest da nicht rauskriege. Ursache für den Speichenbruch genau im Nippel ist die Tatsache, dass ich zwar mit meinen 26-Zoll-Rädern sehr stabile Räder habe, aber durch den großen Durchmesser der Rohloff-Nabe ist die Entfernung zwischen Nabenflansch und Felge so gering, dass die Speichen bereits im Nippel an der Felge beginnen, sich nach der Nabe auszurichten. Das führt zur Sollbruchstelle für die Speiche.

Hinterher erfahre ich von Riese und Müller, dass das konstruktiv durchaus nachvollziehbar sei und eine Felge mit schräg gebohrten Nippel-Löchern die bessere Wahl sei. Echt klasse! Da bauen die Fahrräder für die Weltreise, kommen durch Nachdenken auf gute Lösungen, setzen sie aber nicht um.

Genau vier Speichen neben der gebrochenen klebt ein Schild auf der Felge: “Handcraftet by Riese und Müller Wheel Team”. Meine Wut wächst. Denen werde ich was erzählen…

Aber all der Ärger hilft mir jetzt nicht weiter. Ich fahre mit meinem Rad weiter bis zum nächsten Parkplatz direkt am Highway.

Das Glück ist mit den Radlern: Auf dem Parkplatz steht so ein Riesenmonstrum von Lastwagen mit einem leeren Auflieger – eine einfache Holzpritsche mit drei Achsen drunter.

Der Fahrer sitzt in seinem Führerhaus und liest Zeitung.

Fragen kostet nix, ich klopfe an. Die Tür öffnet sich und ein freundliches männliches Gesicht mittleren Alters mit langen Haaren drüber schaut zu mir runter. Na ja – die Brille ist so dick und verschmiert, dass ich nicht weiß, ob der Mann wirklich erkennt, wer da unten steht.

Ich erzähle von meinem Missgeschick und frage ob ich bis Tok mitfahren könne.

Auf dem Land und in der Wildnis Alaskas sind die Menschen gegenseitig auf Hilfe angewiesen – niemand wird abgewiesen, wenn es nicht wirklich einen triftigen Grund gibt. Und so scheint es selbstverständlich, dass der Trucker aussteigt, sich mein Gefährt anschaut und mir den Anhänger anbietet, nicht ohne vorher zu kommentieren: “There’s nothing more you can put on that bike, eh?”

Ich binde Zelt, Schlafsack und Isomatte los, hänge die Packtaschen ab, und wuchte das Interconti hoch zu Randy, der es in der Mitte des Trailers auf die Seite legt, ein paar Zurrgurte drumwickelt und deren Enden dann irgendwo am Rand der Ladefläche festzieht. Runterfallen kann mein Rad jetzt jedenfalls nicht mehr.

Mein Gepäck verfrachte ich in die Kabine und klettere auf den Beifahrersitz.

Meine Güte, ist das groß hier! Ich schätze die Höhe der Kabine auf gut zwei Meter und hinter mir ist noch ein Schlafzimmer mit Doppelstockbett. Es sieht zwar aus wie Kraut und Rüben, aber dennoch wird dadurch die Großzügigkeit des Innenraums nicht beeinträchtigt.

Randy startet den Motor, mein Sitz vibriert nicht, er schüttelt sich. Randy sieht aus wie fünfzig, ist aber erst kurz über vierzig und schon zweifacher Großvater. Stolz erzählt er von seinen beiden Enkeltöchtern. Seine Familie lebt irgendwo in Montana, er arbeitet für eine Spedition in Anchorage, Alaska und muss jetzt nach Las Vegas, Nevada, um dort eine Maschine abzuholen und sie nach Fairbanks, wieder Alaska, zu bringen. Meist ist er sieben Tage die Woche unterwegs, sieht seine Familie kaum. Und das für “Sixty K Bucks” – 60 Tausend Dollar.

Mein Glück ist, dass fast alle Trucks leer in Richtung Süden fahren, da in Alaska nichts produziert wird, was in den Lower States, in Kontinental-USA, verkauft werden könnte. Fische bringt man nicht erst in Alaska an Land sondern schippert sie direkt nach San Francisco oder Los Angeles. Und Alaska lebt nun mal vom Erdöl, was per Supertanker transportiert wird.

Randy schätzt, dass er drei Tage nach Las Vegas braucht. Der Alcan Highway ist jetzt im Frühjahr schlaglochzersetzt und da könne er den Fuß nicht immer auf dem Gaspedal stehen lassen. Er hat noch einen älteren Truck und fährt ohne Navi und Tempomat – das bringt mehr Gefühl für das Gefährt und die Straße, sagt er.

Was ich denn in Tok wolle, fragt er. “Spokes and nipples”, antworte ich.

Randy lacht und klärt mich auf: Das was ich mit “Nippel” meine, sei wahrscheinlich ein “fitting” – für “nipples” kenne er nur eine Bedeutung und die erinnere ihn eher an weiche Rundungen als an spitze Speichen und harte Felgen.

OK – daran habe ich irgendwie schon lange nicht mehr gedacht…

“Warst Du schon mal in Tok?” reißt er mich aus meinen Gedanken.

“Bisher noch nicht.”

“Dort können sie Dir an einer Tankstelle vielleicht Speiche und Nippel wieder zusammenschweißen, aber einen Fahrradladen gibt’s da nicht.”

“Und wo ist der nächste Fahrradladen?”

“In Whitehorse.”

Whitehorse – das ist doch die Zwischenlandungsstation vom Hinflug, mitten in Yukon. Von dort bin ich noch zwei Stunden geflogen bis Anchorage. Das müssen also noch rund tausend Kilometer sein. Eigentlich wollte ich Rad fahren.

“Fährst Du da hin?”

“Ja, will dort übernachten.”

“Nimmst Du mich mit?”

“Ja – nur müssen wir uns an der Grenze nach Kanada noch was überlegen.”

“Warum?”

“Die stellen sich immer ziemlich pingelig an wegen der Zollformalitäten. Wenn ich Dein Rad hinten drauf lasse, muss ich Einfuhrzoll bezahlen.”

“Hmm…”

“Kein Problem: Ich halte kurz vor der Grenze an, wir laden das Rad ab, fahren getrennt über die Grenze, hinter der Grenze warte ich auf Dich, wir laden das Teil wieder auf und fahren nach Whitehorse.”

OK. Ich bin froh, dass das geregelt ist. Randy ist total nett und wir haben interessante Gespräche. Auch wenn er Jäger und Fallensteller ist, interessiere ich mich für seine Art zu leben. Jagen und Angeln ist hier ein Stück Kultur. Die Natur bietet einen reichen Schatz – “There’s so much!”.

Mit einer Diskussion über Ethik, Sinn und Unsinn von Jagden brauche ich gar nicht erst anfangen. Und Randy vermittelt mir ein Gefühl von Ehrfurcht vor der Natur, ihren Geschöpfen und vor dem was er tut. Früher waren wir doch auch Jäger – reduziert auf krude Triebe gibt es zwischen den Spezien nun mal nur Jäger und Gejagte. Schließlich könne er doch in der Wildnis auch schnell zum Gejagten werden, wenn er Bären begegnet.

Während er die Reisegeschwindigkeit zwischen 120 und 130 km/h hält, schaue ich immer mal wieder in den Rückspiegel – kann mein Gefährt gut erkennen. Highways in Alaska und Kanada haben die Eigenschaft, dass sie manchmal plötzlich Gravelroads sind – Schotterstraßen. Das hat mit dem Permafrostboden zu tun. Wenn der Winter an einigen Stellen zu hart an den Straßen arbeitet, lohnt sich eine Asphaltdecke nicht, da diese einfach zerspringt, platzt und Riesenstücke entstehen, die von den Trucks rausgerissen werden.

Da kommen dann eben im Frühjahr die Gravel-Maschinen, streuen Schotter und walzen den fest. Das funktioniert ganz gut. Hier oben fährt ja auch fast jeder irgendwelche Geländekisten, Pickups oder Trucks. Und ich ein vollgefedertes Interconti. Wenn es denn funktioniert.

Auf den Schotterstücken sehe ich im Rückspiegel nichts mehr – das heißt: Außer Staub nichts mehr.

Die Schlaglöcher, die jetzt schön tief sind, halten Randy nicht vom “Cruisen” ab. Wenn er ihnen nicht ausweichen kann, fährt er einfach drüber. So ein Truck ist ja aus fahrtechnischen Gründen kaum gefedert. Was das Fahrwerk nicht schluckt, muss der Sitz ausgleichen. Der Fahrersitz bewegt sich irgendwie eliptisch vor, zurück, hoch und runter. Das ist ein echtes Meisterwerk, Randy schaukelt beruhigend vor seinem riesigen Lenkrad. Der Beifahrersitz bewegt sich auch. Aber nur hoch und runter. Das Schlagloch kommt, der Truck erhält einen Mordsschlag. Mein Sitz wird nach unten gedrückt, der Gasdruckdämpfer im Sitzfuß wird zusammengepresst und dehnt sich sofort wieder aus. Das schleudert mich nach oben und ich weiß jetzt, warum die Kabine so hoch ist.

Die Grenze zu Kanada passieren wir gegen 21 Uhr. Wir machen es wie besprochen. Ich fahre getrennt von Randy, lasse mir den Ausreisestempel in meinen Reisepass eintragen und schiebe das Rad noch 200 Meter zu dem wartenden Truck. Die Zöllner beobachten das gelassen – formal ist doch alles geregelt.

Eine Einladung zu einem Abendessen in ein Trucker-Restaurant am Highway überrascht meinen Chauffeur. Sowas wäre doch gar nicht nötig. Ich bestehe auf meiner Einladung und so essen wir bei Burwash Landing die obligatorischen Hamburger und trinken Kaffee.

Hier sehe ich auch die ersten Grizzlys am Straßenrand – es seien keine Cubs, keine kleinen mehr, sondern geschätzte drei bis vier Jahre alt, meint Randy. Sie streunern rum auf der Suche nach Nahrung.

Ein Bär hat letztlich drei Hauptaufgaben: Fressen, schlafen, fortpflanzen. Die ersten beiden beschäftigen ihn zu mehr als 90% seiner Lebenszeit. Und Menschen stehen auf dem Speiseplan. Randy erklärt, dass wir zwar erst an zehnter oder elfter Stelle kämen, nach so leckeren Speisen wie Fisch, Beeren oder frisches Gras. Aber manchmal sehnen sich auch Bären nach Abwechslung beim Essen. Und dann wird’s gefährlich.

Abendstimmung am Yukon River in Whitehorse

Um 2 Uhr kommen wir in Whitehorse an. Auf der Tankstelle an der Hauptstraße verabschiede ich mich von Randy, gebe ihm meine Email-Adresse und weiß, dass er nicht schreiben wird.

Das sind Begegnungen, die einmalig sind. So einmalig wie die Menschen und die Natur hier. Auf der ganzen Fahrt habe ich nicht ein einziges Mal daran gedacht, ein Foto von Randy oder seinem Truck zu schießen – es hätte einfach nicht gepasst, etwas von der Harmonie gestört, die sich zwischen uns aufbaute. Am Ende waren wir beide dankbar: Er hatte 700 Kilometer Abwechslung und ich letztlich auch. Dass mein Radtransport da zur Nebensache wird, überrascht mich. Wieder Glücksgefühle. Deshalb bin ich unterwegs.

Mein Rad hat die Tortur auf dem ungefederten Trailer überlebt, nur ist es nicht mehr schwarz sondern grau vom Staub.

Ich suche mir einen Zeltplatz. Das ist hier einfach, da es nachts nicht dunkel wird. Der Himmel glüht im Norden, das ist ein irres Gefühl. Ich werde irgendwann mal nachts aufbleiben und fotografieren – die ‘Nacht’ dauert ja nur zwei Stunden.

Im Zelt liegend merke ich jetzt erst, wie müde ich eigentlich bin. Zufrieden und glücklich schlafe ich ein.