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27. Mai 2009

Nach dem Frühstück verabschiede ich mich ein wenig wehmütig von den schrägen Typen und den netten Mädels und biege links auf den berühmten Alaska-Highway ab.

Kalt ist es, ich habe ziemlich starken Gegenwind und schaffe heute nur 60 Kilometer in vier Stunden Nettofahrzeit.

Der Marsh-Lake leuchtet in vielen Farben

Der Marsh-Lake ist noch zugefroren und der Wind kühlt sich nochmal zusätzlich so richtig schön ab, wenn er über die eisige Oberfläche weht. An mir will er sich dann wieder aufwärmen – den Gefallen tue ich ihm aber nicht, Gore sei Dank. Ich hoffe, dass der Wind morgen nachlässt. Wenn das jeden Tag so geht, dann wird das ein noch vierwöchiger Kampf gegen den unsichtbaren, aber ehrlichen Gegner.

Wenn Bäche schlängeln...

Die Geschichten über die Bären, die Peter, Flo und Micha erzählten, geben mir zu denken. Im Visitor Information Center von Whitehorse nehme ich die hiesige Broschüre über die braunen und schwarzen Gesellen mit.

“How to Stay Safe in Bear Country” heißt sie und ist anschaulich und nachvollziehbar geschrieben.

Intelligente und höchst individuelle Tiere sind das. Wie wir Menschen, hat jedes Tier seine spezifische, merkliche Identität. Es gibt eine breite Masse an “normalen” Tieren, die scheu sind und eigentlich eher ihre Ruhe haben wollen. Aber an den Rändern dieser Statistik gibt es Bären mit psychischen Pathologien – das ist mir allerdings bei den Menschen auch nicht fremd. Mein Problem ist, dass ich nicht einschätzen kann, wie breit diese Ränder sind.

Jede Region bietet Informationsbroschüren über Bären an

Das Zusammenleben von Bär und Mensch basiert mehr auf Furcht als auf Verständnis und Respekt. “Have you seen the bears? Where’s your rifle, man? I wouldn’t go into the woods without a gun like that” – verbunden mit einer Ausbreitung der Arme auf Maximallänge – das ist das, was ich von fast allen Menschen höre, denen ich begegne.

Zum Glück werden die zuständigen Behörden von Biologen und Zoologen beraten und nicht vom “gemeinen Volk”. Insofern hat sich auch die Einstellung zum Schutz von Bären geändert – waren früher Abknall-Orgien an der Tagesordnung, wenn Bären durch Müll oder Fütterungen zu den Menschen gelockt wurden, so sind diese Tiere heute gesetzlich geschützt und Verhalten verboten, was zu gefährlichen Situationen führen kann. Ein neuer Denkansatz sozusagen. Ich finde das gut.

Auch die Aufklärung in den offiziellen Broschüren findet in dem Duktus statt, dass niemand das Risiko eines Angriffs durch Bären ausschalten kann, es aber durch eigenes Verhalten erheblich reduzieren kann. Und das Risiko eines Bärenangriffs ist ja immer auch ein Risiko für den Bären selbst – es gibt genügend bewaffnete Bärenjäger, die nur auf Alibis warten um dann mit ihren lauten und stinkenden Quads in die Wälder zu fahren und eine Angst-getriebene Hetzjagd auf die Tiere zu starten.

Ich versuche, meine Gedanken und meine Einstellung zu diesen Raubtieren zu sortieren. Was mir Sorgen bereitet, ist, dass wir Menschen auf deren Speiseplan stehen. Was mich gelassener macht, ist, dass wir Menschen erst an neunter oder zehnter Stelle stehen. Ganz oben stehen Lachs, dann Forelle und im Frühjahr frisches Gras. Dann kommen Wurzeln, Baumharz, Beeren, Kleinviecher, Jungtiere aus dem Wald und erst weiter hinten ich.

Hier oben ist es so kalt, dass die Bären noch Winterschlaf halten

Aber der Reihe nach:

  • Bären sind intelligent und neugierig.
  • Sie können so gut sehen wie Menschen und wesentlich besser hören.
  • Der Geruchssinn von Bären ist außerordentlich gut – rund 100.000 mal feiner als unserer.
  • Muttertiere haben einen extremen Schutzinstinkt ihren Jungen gegenüber.
  • Meister Petz ist uns in Punkto Geschwindigkeit in allem überlegen: Er kann schneller laufen, besser klettern, ausdauernder und fixer schwimmen als wir. Flucht ist also zwecklos. Und auch mit einem 60-Kilo-Rad werde ich schwerlich die V-max eines Bären von knapp 50 km/h übertreffen.
  • Die Suche nach Nahrung prägt den Alltag eines Bären mit erster Priorität. Wenn sie aus dem Winterschlaf erwacht sind, haben sie Hunger und wenn sie dann wieder ihr Normalgewicht erreicht haben, ist es auch schon wieder an der Zeit, sich Reserven für den nächsten Winterschlaf anzufressen.
  • Wenn Bären größere Säugetiere (auch Menschen) angreifen, dann versuchen sie, diese mit Prankenhieben auf Kopf und Nacken zu töten.
  • Das Verhalten von Bären ist im Wesentlichen vorhersehbar.
  • Es ist ratsam, sich weder einem Bären zu nähern noch vor ihm zu flüchten. Beide Verhaltensweisen lösen Kampfreflexe bei den Tieren aus – entweder Angriffs- oder Abwehr-motiviert.
  • Wenn man einem Bären begegnet, dann sollte man einfach stehen bleiben und seinen Platz behaupten. Wenn der Bär aufmerksam wird, sollte er mit ausgebreiteten, winkenden Armen angesprochen werden – mit ruhiger, respektvoller Stimme.
  • Wenn ein Bär angreift, wird es ernst. Nicht wegrennen sondern Waffen sortieren. Wenn ich etwas zum Hinwerfen habe (Rucksack, Lenkertasche, Schlafsack, etc.), dann werfe ich es vor mich um die Aufmerksamkeit des Bären von mir abzulenken. Die meisten Angriffe stoppen kurz vor dem Körperkontakt.
  • Wenn der Kopf hochgehalten und die Ohren aufgestellt sind, kann das einer der seltenen Fälle sein, in denen der Bär den Menschen als Opfer und Nahrung sieht. Dann heißt es: Kämpfen! Mit aller Kraft und allen Mitteln. An diesem Punkt hätte ich es mit einem Bären zu tun, der mich fressen will. In der Yukon-Broschüre heißt es: “Sei so aggressiv wie möglich, konzentriere Dich auf Gesicht, Augen und Nase des Bären. Gib nicht auf! Es kann sein, dass Du gerade um Dein Leben kämpfst…”

Ich komme zu folgendem Fazit: Respekt ja, Angst nein.

Auf so manchen Karate-Kumite-Lehrgängen hatte ich es mit übergewichtigen, großen Kampf-Bären der menschlichen Rasse zu tun und hatte mich immer ganz gut behauptet. Aufgrund mehrerer Rippenbrüche kenne ich auch meine neuralgischen Stellen und weiß sie abzudecken. An Schläge auf Kopf oder Nacken kann ich mich nicht erinnern – was mir in einem Nahkampf mit den Bären zugute kommen könnte.

Sollte ich wirklich in einen Kampf mit einem Schwarzbären oder einem Grizzly verwickelt werden, so muss ich so wendig wie möglich sein. Nachdenken ist in solchen Situationen erfahrungsgemäß nicht mehr drin, da das Adrenalin die Synapsen im Gehirn blockiert. Somit kann ich mich nicht erst mit irgendwelchen Gebrauchsanweisungen für Pfefferspray auseinandersetzen oder mal eben sondieren, wo denn der Wind herkommt, wenn der Bär herkommt.

Ich verlasse mich auf meinen eigenen Körper und die 10 Zentimeter lange Klinge meines Leatherman.

Mir wird bei diesen Gedanken auch klar, dass es für mich gut ist, diese Reise allein zu unternehmen.

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Nun ist’s aber auch gut mit den Schauergedanken – ich liege jetzt im Zelt, mitten im Wald, es wieder mal so wunderbar ruhig, dass ich diese Stille förmlich hören kann. Wenn ich immer nur denken würde, was alles passieren könnte, dann würde ich jetzt nicht hier liegen und das Leben so genießen. Ich glaube, dass alle wirklich großen Projekte, Ideen, Konstruktionen, die wir heute bewundern und von denen wir profitieren, von den meisten Zeitgenossen vorab als aberwitzig, unmöglich, gefährlich, spinnert abgetan wurden. Das ist doch die große Herausforderung des Lebens: Zu entscheiden, was für einen wirklich wichtig ist, das dann zu verfolgen und umzusetzen und alles andere hinten anzustellen. Wen interessieren dann die Unkenlieder des Zweifels der anderen?

Kuscheln in der Kälte - Freude auf den Daunenschlafsack

Ich werde mich jetzt in meinem Daunenschlafsack einkuscheln, noch ein wenig nachdenken und so langsam und gemütlich einschlafen.