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10./11. Juni 2009 – Persönliches Feast, Bahnfahrt locker, Begegnungen

10. Juni 2009

“Hey George!”

“Hey George!”

“Hmmm…?” Ich schaue auf meine Uhr – es ist halb sieben.

“Hey George!”

“Yeah?”

“Morning!”

“Morning!”

Anscheinend ist in Matt ein Jäger versteckt – Jäger stehen früh auf. Ich ziehe mir was über und krabbel raus aus meinem Zelt.

“Nice day!” meint Matt

“Yeah!”

Ich kann noch nicht so viel reden so früh am Morgen.

Ich gehe zu ihm ins Haus und fühle mich vom Fernseher genervt, der den ganzen Tag läuft. Dabei ist das Programm gestört und der Ton ist völlig verrauscht. Matt schaut auch gar nicht hin. Na das wird was…

Nachdem ich im Bad fertig bin, hole ich Haferflocken, Erdnussmus, Studentenfutter und Honig aus meinen Radtaschen und koche uns ein nahrhaftes Frühstück. Matt kocht Kaffee und gibt die Milch dazu.

Sowas kennt Matt nicht – aber ihm schmeckt das offensichtlich sehr gut. Dennoch fehlt ihm Ahornsirup. Ein halbes Wasserglas davon landet dann schon noch auf seinem Teller. Gut – mir wäre das zu süß.

Ich frage, ob wir die Flimmerkiste ausschalten können – kein Problem. Ruhe. Schön.

Matt erzählt mir noch ein wenig von seinen Angel-Touren und zeigt mir stolz eine alte und schwere Taschenlampe. Ich erzähle ihm von den modernen Stirnlampen, die mit LED funktionieren, leicht sind, eine lange Batterielaufzeit haben und wasserdicht sind. Und da man sie um den Kopf trägt, hat man beide Hände zum Hantieren frei.

Das wäre eine gute Idee, sagt Matt.

Ich denke daran, dass ich heute noch nach Smithers fahre, dass es dort garantiert Outdoor-Läden gibt und ich mir eine neue Stirnlampe kaufen kann. Gehe raus ins Zelt, hole meine Stirnlampe rein und lege sie auf den Tisch.

Da liegt schon eine Holzmaske. Matt schenkt sie mir, sagt, er hätte sie selbst auf dem letzten Feast geschenkt bekommen. “Our spirit!” sagt er.

Ich sage, dass wir heute auch Feast machen und gebe ihm meine Stirnlampe. Matt freut sich wie meine Kinder letztes Jahr Weihnachten. Die Lampe hat für ihn einen großen praktischen Nutzen und eben die traditionelle Bedeutung, dass sie mit einem Freund getauscht wurde.

Ich selbst frage dreimal nach, ob ich die Maske wirklich mitnehmen könne.

“Sure!”

Nachdem ich mein Rad gepackt habe, binde ich die Maske vorn an meine Lenkertasche.

“Good spirit!” sage ich zu Matt. Der lacht.

Wir geben uns zum Abschied die Hand – wie zwei Männer – und für mich geht’s weiter, Richtung Osten, Richtung Smithers.

Matt wird selbst wohl wieder einen eher tristen Tag verleben in seinem Haus in Moricetown.

Die 40 Kilometer Landschaft bis Smithers sind eher landwirtschaftlich geprägt. Erinnern mich an Nordhessen: Weiden, Kühe, Pferde, geschwungene Hügel, Bauernhöfe. Nur Dörfer gibt es hier nicht. Dafür riesige Farmen mit mondänen Häusern drauf.

In Smithers selbst genieße ich erstmals wieder so etwas wie “Stadtathmosphäre”. Menschen, Läden, Möglichkeiten.

Kurz nach dem Ortsschild fahre ich auf den Parkplatz des ersten großen Supermarktes. Kaufe mir Süßigkeiten und Nüsse in der Bulk-Food-Abteilung.

Draußen packe ich die Sachen in meine Packtaschen, eine Frau spricht mich an. Sie ist ungefähr mitte dreißig, attraktiv. Sechs Kinder hat sie – wow! Die drei, die sie dabei hat, sind ruhig und schauen mich interessiert an. Ihre Fragen lese ich in ihren Gesichtern: Ungepflegter Bart, kurze enge Radhose, braungebrannt, mit einem Fahrrad unterwegs, was ist das für ein Typ? Ihre Mutter sagt, dass sie den Drang hatte, mich anzusprechen und mich als “Traumverwirklicher” bewundert. Nach einem kurzen Gespräch über meine Herkunft und meine Ziele streichelt sie mir kurz über den Arm und geht mit den Kindern in den Supermarkt. Huch… was war jetzt das?

In einem Outdoorladen kaufe ich mir eine neue Stirnlampe, in einer Bäckerei (sic) ganz leckere Donuts und sonstige Süßigkeiten, am Bahnhof Fahrkarten nach Prince George. Zwei Stunden habe ich noch bis der Zug fährt. Setze mich auf eine Bank im Stadtpark von Smithers, esse meine Leckereien und hole etwas Schlaf nach, den ich heute morgen abbrechen musste…

Der Dieselzug kommt pünktlich. Mein Fahrrad soll in den Gepäckwagen vorne. Ach Du meine Güte – die Türschwellen der Waggons sind so hoch und der Bahnsteig so niedrig, das ich nicht weiß, wie ich meine Rad-Fuhre in die Zug-Fuhre reinkriegen soll. Ein freundlicher Bahnarbeiter kommt und hilft mir.

Ich gehe nach hinten in einen Passenger-Coach und suche mir ein freies Plätzchen. Der Waggon ist ungefähr halb voll – nette Gesellschaft, ich setze mich an einen Tisch, am Tisch neben mir zwei junge Mädels.

Im Laufe der Fahrt nach Prince George lerne ich die beiden kennen – eine Schweizerin und eine Holländerin. Pia, die Schweizerin will auch mal die Panamericana abfahren, aber mit dem Motorrad. Ist hierher nach Kanada ausgewandert, weil sie sich in der Schweiz zu sehr eingezwängt gefühlt hat. “Alles so eng, räumlich und auch geistig.”

Die Pünktlichkeit der Schweizer geht ihr extrem auf die Nerven. Und dass alles geregelt sein muss.

Hier in Kanada nehme man es nicht so genau mit der Pünktlichkeit und überhaupt sei alles ziemlich locker, käme ihrem Naturell wesentlich näher. Lena, die Holländerin, meint, dass das in Deutschland doch auch so sei.

Ich fühle mich leicht herausgefordert und versuche, zu verdeutlichen, dass Pünktlichkeit ja nicht per se schlecht sei. Wenn ein Flugzeug einen Flugplan hat, der wiederum von anderen Flugplänen abhängt und der auch selbst wieder andere Flugpläne beeinflusst, dann ist es sinnvoll, den einzuhalten. Wenn dann eben ein Passagier zu spät kommt, hat der Pech und nicht 400 andere, die im Flugzeug warten.

Und eine Operndiva hat sicherlich auch keine Lust, bei einer ruhigen Arie im Konzert ständig durch Spätkommer gestört zu werden. Und ich glaube, dass da auch die Kanadier keinen Spaß mehr verstehen und die Lockerheit ihre Grenzen hat.

Jedenfalls hat die Lockerheit beim Einhalten des Fahrplans dieses Zuges hier keine Grenzen. In Deutschland ist es so, dass die langsamen Güterzüge in der Regel auf ein Nebengleis gestellt werden, wenn auf einspuriger Strecke ein Personenzug überholt oder entgegenkommt. Hier sind entweder die Güterzüge zu lang oder die Nebengleise zu kurz. Jedenfalls muss dieser Zug, in dem wir hier sitzen, permanent warten, bis wieder einer von diesen hunderte von Metern langen Mega-Zügen vorbei ist. Und da die Strecken hier offensichtlich noch aus den Wild-West-Cowboy-Zeiten stammen, ist der Begriff “zügig” hier nicht auf Güterzüge ausgerichtet.

Wir erreichen Prince George kurz vor Mitternacht mit siebeneinhalb Stunden Verspätung. Es ist dunkel. Alle werden von irgendwem abgeholt oder gehen in ein vorgebuchtes Hotel.

Nur ich soll mir jetzt einen Zeltplatz suchen? Schnickschnack. Ich entscheide mich, einen Ruhetag einzulegen, Materialpflege zu betreiben und gehe ins nächste Hotel. Eine ältere Dame begrüßt mich total freundlich, bietet mir ein Zimmer für 150 CDN-Dollar und zwei Nächte an. Ich versuche wieder, zu verhandeln, wie oben in Alaska, aber die Hoteliers hier in Amerika haben offensichtlich alle die gleichen Gene. 150. OK – ich zahle und genieße eine heiße Dusche und ein frisches Bett.

11. Juni 2009

Ruhetag: Spazierengehen, einkaufen, Material pflegen, Mails schreiben, essen, mit Leuten quatschen. Easy Living.

Das bemerkenswerteste an Prince George, einer zentrumslosen Business-Stadt, ist, dass sie mückenfrei ist.

Ich gehe nochmal meine Route durch. Jasper und Banff hatte ich mir vorgenommen, aber nicht erreicht. Dafür habe ich Ziele erreicht, die ich mir gar nicht vorgenommen hatte:

So viele tolle Menschen erlebt. Ich habe den Cassiar durchgehalten. Wildnis und Abgeschiedenheit lieben gelernt.

Ich kann mir gut vorstellen, dass ich noch mehr davon nur über das Wandern erleben kann. Ich wünsche mir, dass ich mehr Zeit hätte für eine solche Tour. Ich nehme mir vor, dass ich mehr Zeit haben werde für eine solche Tour. Dann werde ich Radfahren und Wandern kombinieren.

9. Juni 2009 – ‘Ksan, Gitxsan, Dakelh

Nachdem ich mein Zelt abgebaut und meine Sachen wieder auf dem Rad verstaut habe, gehe ich rüber zum historischen Dorf der ‘Ksan. So richtig verstehen kann ich den Unterschied zwischen ‘Ksan und Gitxsan nicht – vielleicht wird es auch nur als Synonym verwandt.

Mich interessiert viel mehr die Spiritualität, die in der Geschichte der Natives, der First Nations, der “Eingeborenen”, steckt. Die sie aber heute auch wirklich nur noch in Museen und Ausstellungen berichten können. Die Kultur der Nachhaltigkeit von früher, die auf einer tiefen Verwurzelung mit dem Geist der Erde, der Natur basierte, diese Kultur ist im Laufe der Degeneration der meisten Natives in den Großstädten und in den Reservaten oder selbstverwalteten Kommunen verloren gegangen. Übrig bleibt zumindest für mich hier und heute ein Appell an mich als friedlicher Reisender, dass ich doch mit offenem Geist und sanftem Herzen reisen soll.

Natives in Anchorage oder Whitehorse waren meist alkoholisiert, was anerkanntermaßen ein großes Problem für die Städte und die Natives ist. Auch auf dem Cassiar bin ich durch selbstverwaltete Kommunen gefahren, in denen es keine Müllabfuhr gibt, in denen sich niemand um auslaufendes Öl aus alten Autowracks kümmert.

Die Kultur der Nachhaltigkeit, in der alles geehrt und verwertet wurde, wurde bestimmt durch die Achtung des Geistes “unserer Großväter”. Die Weisheit der Alten wurde geschätzt, sie war die Gegenwart der Vergangenheit: “Walk on the Breath of Our Grandfathers.”

Der Großvater als Symbol des Vergangenen, aber noch Bekannten? Als Verbindung zur Geschichte, zu den Wurzeln? Kreislauf, großer Kreislauf – das ist immer wieder Thema, wenn es um die großen Fragen nach Herkunft und Bestimmung geht. Wir alle werden Vergangenheit sein, aber auch Zukunft.

In diesem Kreislauf sind wir Menschen nur ein kleiner Teil. Tiere, Pflanzen, Wasser, Luft – alles ist Teil dieses Kreislaufs und darin beliebig austauschbar. Tiere haben bei den Natives auch ganz besondere Bedeutungen. Das fasziniert mich besonders. Sie werden als Symbole für bestimmte Eigenschaften geehrt, die einem Stamm besonders wichtig ist.

Die ‘Ksan verehren insbesondere den Frosch, den Bären, den Raben und den Biber. Sie zeigen das mit ihrem Totempfählen. Der Frosch steht für Wasser und dessen Energie, Medizin, Wiedergeburt, Frieden und Kraft. Der Bär für den Wächter der Welt, für Mut, Willenskraft und große Stärke. Den Biber sehen die ‘Ksan als Symbol für Bestimmtheit, Baumeister, Beschützer.

Mir selbst imponiert der Rabe besonders. Ich habe schon immer ein besonderes Gefühl, wenn ich die schwarzen Vögel beobachte – vor allem, wenn sie in großen Scharen zusammen sind. Alan Parsons Projects “Tales of Mystery and Imagination”, Alfred Hitchcocks “Die Vögel”, Edgar Allan Poes “The Raven” und nicht zueltzt Otfried Preußlers “Krabat” haben mich sicherlich beeinflusst.

Auch bei den ‘Ksan steht der Rabe für Magie, für Zauber, für Selbstbeobachtung, Selbstbewusstsein und Mut.

Und genau in dem Augenblick, in dem ich darüber nachdenke, setzt sich ein Rabe auf den Totempfahl, der mir am nächsten ist.

Jedes Tier, das ein Native früher tötete, gab seinen Geist und Teile seiner Eigenschaften an den Jäger und an den, der Fleisch, Feder, Fell, Zähne oder sonstige Körperbestandteile zu sich nahm oder an sich trug, weiter. Die Natives dankten dem Tier dafür und verwerteten es komplett. Was nicht verwertet werden konnte, wurde verbrannt und so an den großen Kreislauf zurückgegeben.

Ich selbst gewinne aus der Idee von Kreislauf und Nachhaltigkeit auch für mich Kraft und Zuversicht. Nicht nur als bewusst handelnder Mensch sondern durchaus auch spirituell. Und kognitiv: Um denken und mich bewegen zu können, benötige ich Energie. Energie, die ich in Form von Nahrung zu mir nehme. Mein bewusstes und sogar unbewusstes Leben basiert also auf der Verwertung von Pflanzen, Eiern, Fisch, Fleisch, und so weiter.

Ein Wissenschaftler würde die Tatsache, dass eine Pflanze oder ein Tier in uns weiterlebt, in etwa so formulieren: Die in Form von Kohlenhydraten und Eiweißen gebundene chemische Energie unserer Nahrung wird im menschlichen Körper zu elektischer Energie zum Denken und zu kinetischer Energie zum Bewegen verstoffwechselt.

Nur kenne ich keinen Wissenschaftler, der sich bei seiner Nahrung dafür bedankt, dass er durch sie leben kann.

Ich bekomme durch den Besuch dieses historischen Dorfes eine Ahnung von der Achtung, mit der die Natives sich selbst und der Natur begegneten. Auf der anderen Seite weiß ich aber auch, dass sich benachbarte Stämme immer auch gegenseitig bekriegten und Feinde dermaßen folterten, dass es mir schwer fällt, das alles zu einem positiven Gesamtbild zu verknüpfen.

Ich selektiere das, was zu mir passt und bin zufrieden.

Was mir noch imponiert, ist die Idee der “Feasts”: Eine Art Flohmarkt, der regelmäßig stattfand und mit großen Festen gefeiert wurde. Dabei brachte jeder Einwohner etwas aus seinem Haus mit, was entweder doppelt vorhanden war oder was übrig war und was jemand anders brauchen könnte. Auch Essen und Trinken wurde mitgebracht. Alles wurde im “Feast-House” auf eine Bühne gelegt. Nach festgelegten Regeln konnten sich dann alle etwas von der Bühne mitnehmen. Der Eingang des Feast-House führte durch einen Totempfahl und war so konstruiert, dass nur eine Person gleichzeitig rein oder raus gehen konnte. Das sollte der Sicherheit vor Überfällen dienen und die Bewachung des Eingangs erleichtern.

Die Feasts wurden in der Regel nach den Toden von bedeutenden Einwohnern des Dorfes gefeiert und stellten auch eine Art Dankbarkeitsritus dar.

Im Museumsshop kaufe ich mir einen handgemachten Gürtel aus Leder. So habe ich ein Erinnerungsstück an diese Gedanken für meinen irgendwann wieder kommenden Alltag im Büro und zuhause.

Es ist Mittag, als ich Hazelton verlasse. Kurz vor dem Yellowhead finde ich eine Bank mit einem wunderbaren Blick auf die Seven Sisters – eine Berggruppe am Yellowhead Richtung Westen – und das Tal des Skeena River. Ich setze mich noch ein paar Augenblicke hin, um das Gebiet der ‘Ksan auszumessen und stelle mir vor, ich wäre einer von ihnen und würde hier über meine Jagdgründe schauen.

In New Hazelton direkt am Yellowhead kehre ich in ein “Restaurant” ein. Ich weiß gar nicht, was die anbieten, aber irgendwas werden die schon haben.

Ein total netter Hongkong-Chinese, der trotz 30 Jahren Aufenthalt in New Hazelton immer noch ein grottenschlechtes Englisch spricht, begrüßt mich mit dem typisch asiatischen Lächeln und bittet mich, Platz zu nehmen.

Ich frage nach seinen Spezialitäten. Als wenn es direkt aus einem Film über Vorurteile käme: “Wolm Maffin wit battel and salt”. Warme Muffins mit Butter und Salz. Hmm… Wie jetzt – warm? Ja – direkt aus dem Ofen, nicht aus der Mikrowelle.

OK. Ich bestelle zwei und eine große Tasse Kaffee.

Es dauert tatsächlich rund zehn Minuten, bis die Muffins vor mir auf dem Tisch stehen. Und was soll ich sagen? Es sind keine süßen Muffins, wie ich sie bisher kennenlernte sondern eher neutral mit einem etwas festeren Teig als sonst. Mit Butter und Salz jedenfalls lecker. Und gut für meine Kraftwerke in den Beinen. Noch etwas Zucker in den Kaffee und ich bin bereit für viele Kilometer.

Am Nachmittag kommen Regenwolken auf.

Ich bin kurz vor Moricetown und kann mir vorstellen, schon jetzt mein Zelt aufzuschlagen, um Schutz vor dem Regen zu haben. In Moricetown selbst wird der Himmel sehr dunkel und ich frage eine Frau auf dem Bürgersteig, ob es hier in der Nähe einen Campground gäbe. Sie versteht mich überhaupt nicht und ich will weiterfahren. Da sehe ich im Hintergrund auf einer Veranda eines kleinen Hauses einen Mann winken. Zuerst denke ich, er meint die Frau. Nachdem diese sich aber abgewendet hat und der Mann immer noch winkt – mich zu sich winkt, fahre ich hin.

“Hey, what’re you look’n for?” fragt mich ein ziemlich untersetzter Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem noch freundlicheren Lächeln. Ich suche einen Platz zum Zelten für eine Nacht, antworte ich. Matt stellt sich vor und bietet mir seinen Garten an – er habe ihn schließlich gerade frisch gemäht.

Das Angebot nehme ich gerne an und biete meinerseits an, das gekaufte Abendessen mit ihm zu teilen. In klassischer “Feast”-Tradition. Matt ist tatsächlich einer der First Nations, von den Dakelh People oder auch Carrier-Indianern.

Nachdem das Zelt steht, darf ich bei Matt duschen und während ich das tue, ruft er Kenny zu sich, der im Nachbarhaus wohnt. Beide sind ledig und wohnen jeweils allein. Bei Kenny kann ich dann meine Wäsche waschen und trocknen.

Matt und ich essen gemeinsam zu abend und er erzählt mir seine Geschichte. Arbeit? Hier? Fehlanzeige. Er lebt von ein wenig Stütze, von der Hilfe seiner Stammeskameraden und vom Fischfang. Im Skeena River und in nahen Seen haben die Natives ein unbegrenztes Recht, Fische zu fangen und zu verkaufen. Den Namen “Dakelh” oder “Carrier” haben sie, weil sie traditionell – wenn Väter oder Großväter starben – einige kleine Knochen oder Teile der Asche ihrer Väter oder Großväter in einem kleinen Rucksack auf dem Rücken tragen, solange sie um die Verstorbenen trauern.

So wie es im Dorf meiner Großeltern in Nordhessen Tradition war, während der Trauerzeit schwarz zu tragen, wenn ein nahestehendes Familienmitglied gestorben war.

Es ist schon interessant, in welchen Denk-, Glaubens- und Ritusmustern sich Kulturen aus unterschiedlichsten Regionen der Welt abgrenzen, aber auch gleichen.

Fast allen ist heutzutage gemein, dass die Vielfalt der Riten abstirbt.

Wir sorgen ja insgesamt dafür, dass Vielfalt abstirbt. Egal ob nun bei den Riten oder bei den Tier- und Pflanzenarten, beim Essen, beim Trinken, beim Informieren, beim Kinogehen, und so weiter: Je einfacher die Welt ist, desto komfortabler. Und mal ehrlich: Wer braucht schon Galloway-Rinder, wenn McDonalds die gar nicht verarbeitet? Oder wer braucht schon Frankfudder Äbbelwoi, wenn die EU den gar nicht subventioniert? Wer braucht schon wissen, dass er von Menschen belogen wird, die mit Bundeskanzler und Bundespräsident auf Du und Du stehen, Unsummen an Wahlkampfhilfen überweisen und dann per Gesetz protegiert werden? Wer braucht schon Charlie Caplins “Modern Times”, wenn in Hollywood mit 3D-Trash viel mehr Geld gemacht werden kann?

Nee, das könnte ja dazu führen, dass unsere Spaßgesellschaft gestört wird, dass wir räsonierten, mündig würden, und möglicherweise unbequem. Unseren Politikern Verantwortung für ihr Tun abfordern würden. Wer will das schon?

Matt bietet mir an, im Haus zu schlafen. Das lehne ich dankend ab und verabschiede mich nach draußen. Morgen früh wollen wir nochmal zusammen frühstücken bevor ich weiterfahre.

Das war ein glücklicher Tag für mich. Ich bin wo ich bin, bleibe wann ich will, fahre weiter wenn ich Lust habe. So macht das Leben Spaß.

8. Juni 2009 – Das Ende des Cassiar, der Anfang der zivilisierten Welt

Kitwanga. Das Ende des Cassiar, Beginn des Yellowhead. Ich bin völlig geschafft.

Eine kleine Kirche begrüßt mich am Ortseingang – mit einem echten Heiligenwölkchen drüber, wie gemalt. Das ist wirklich die einzige Wolke am Himmel – erstaunlich.

Als erstes fahre ich in ein Café. Bestelle mir zwei Donuts und zwei Muffins. Und einen großen Kaffee mit free refill. Da das Café erstaunlich klein ist und erstaunlich voll ist, setze ich mich an einen Tisch, an dem schon ein älteres Ehepaar sitzt. Er ist – na sagen wir mal: extremstfüllig, sie normal. Na ja, was hier eben “normal” ist. Ich bin jedenfalls unnormal – mit meinem BMI von rund 20.

Holländer! Seit vierzig Jahren hier, aber: Holländer! Ich finde es fast schon aberwitzig, dass ein so kleines Land sich einem in der ganzen Welt immer wieder aufdrängt. Aber wir unterhalten uns wenigstens auf englisch. Na ja, die beiden sind ganz nett. Aber er frisst wirklich wie eine Maschine. Hat kaum die Möglichkeit, sich nach vorn zu beugen, da er dann mit seinem Bauch den Tisch verschieben würde. Er greift nach seinem Kaffeelöffel und dieser fällt ihm runter.

Jetzt wird’s spannend, denke ich. Statt auch nur den Anschein zu machen, sich bücken zu wollen, redet er seelenruhig weiter. Seine Frau bückt sich und hebt den Löffel auf. Und beide vermitteln den Eindruck, als sei genau das das Selbstverständlichste von der Welt. Er kann halt nicht und sie hilft ihm.

Fett sein als Behinderung. Selbst gemacht, selbst verschuldet. Toll. Was, wenn seine Frau auch nicht mehr kann? Wer hilft solchen Menschen dann eigentlich? Wird die Betreuung von den Krankenkassen bezahlt, also von mir? Himmel, ich als Finanzierer der Dekadenz der Überflussgesellschaft.

Manchmal finde ich die Idee sympathisch, unser Überleben hinge immer noch davon ab, ob wir das nächste Reh erlegen, um uns zu ernähren und davon, dass wir schneller als Bären und Wölfe sind, um nicht selbst gefressen zu werden.

Der Skeena River ist ein imposanter Fluss. Ich stehe auf der Brücke und schaue nach rechts, nach Westen.

Den Yellowhead bis Prince Rupert fahren? Ich überlege. Knapp 250 Kilometer eine Strecke. Und Einbahnstraße, also die gleiche Strecke wieder zurück. Und das Wetter am Pazifik ist unberechenbar. Ich kann die fünf Tage nicht erübrigen und biege links ab.

Auf dem Yellowhead Highway geht es wesentlich turbulenter zu als auf dem Cassiar. Kein Wunder – er verbindet zwei wirtschaftliche Knotenregionen miteinander: Das Fährterminal in Prince Rupert und die Holzindustrie-Zentrale in Prince George im Zentrum British Columbias.

Ein Schild warnt vor Hitchhiking, dem Fahren per Anhalter. Der Yellowhead hat zwischen den beiden genannten Orten auch den Beinamen “Highway of Tears” – in den letzten Jahren verschwanden dort über 30 Frauen oder wurden ermordet. Alle waren als Anhalterinnen unterwegs oder nahmen Anhalter mit.

Also: “Eastbound” geht’s weiter.

Die Landschaft ändert sich schnell. Teilweise habe ich den Eindruck, ich bin in den Alpen unterwegs. Die einsamen Brocken Alaskas und die rauhe Natur des Cassiar werden abgelöst durch alpines Gelände mit Bergen, Tälern, Wiesen, Weiden und Almen.

Und Zäunen. Spätestens die erinnern mich daran, dass ich wieder in der Zivilisation angekommen bin.

In Hazelton kaufe ich mal wieder ordentlich ein. Die Verkäuferin erzählt mir von einem Campground, der von den ‘Ksan Natives betrieben wird – in Eigenregie. Unten am Skeena River. Das reizt mich, den Umweg nehme ich gern in Kauf. Außerdem müsste ich mal wieder duschen und meine Wäsche waschen.

Mein Zelt baue ich dann auch tatsächlich auf dem Campground und direkt rund fünf Meter vom Skeena River entfernt auf. Aber eine Illusion wird mir genommen: Moskitofreiheit. Na ja, ich habe mich mittlerweile an die Insekten gewöhnt. Die Moskitos sind auch das kleinere Übel – im Gegensatz zu den Horseflies und den Blackflies.

Es gibt Nudeln mit frischen Paprika, Ingwer, Grounded Beef und Chili zum Abendessen. Lecker.

Einer meiner Lieblingsausrüstungsgegenstände ist mittlerweile mein Seiden-Inlett geworden. Ich freue mich jeden Abend, wenn ich da reinschlüpfe, über das wohlige, streichelnde Gefühl auf meiner Haut.

Morgen will ich mir das Dorf der Natives anschauen, das sie hier direkt neben dem Campground aufgebaut haben.

Ach, ich lasse nochmal meine Gedanken über die letzten siebenhundert Kilometer fliegen – über den Cassiar Highway und alle Erlebnisse, die ich dort sammeln konnte. Und schlafe sehr zufrieden ein.