Nachdem ich mein Zelt abgebaut und meine Sachen wieder auf dem Rad verstaut habe, gehe ich rüber zum historischen Dorf der ‘Ksan. So richtig verstehen kann ich den Unterschied zwischen ‘Ksan und Gitxsan nicht – vielleicht wird es auch nur als Synonym verwandt.
Mich interessiert viel mehr die Spiritualität, die in der Geschichte der Natives, der First Nations, der “Eingeborenen”, steckt. Die sie aber heute auch wirklich nur noch in Museen und Ausstellungen berichten können. Die Kultur der Nachhaltigkeit von früher, die auf einer tiefen Verwurzelung mit dem Geist der Erde, der Natur basierte, diese Kultur ist im Laufe der Degeneration der meisten Natives in den Großstädten und in den Reservaten oder selbstverwalteten Kommunen verloren gegangen. Übrig bleibt zumindest für mich hier und heute ein Appell an mich als friedlicher Reisender, dass ich doch mit offenem Geist und sanftem Herzen reisen soll.
Natives in Anchorage oder Whitehorse waren meist alkoholisiert, was anerkanntermaßen ein großes Problem für die Städte und die Natives ist. Auch auf dem Cassiar bin ich durch selbstverwaltete Kommunen gefahren, in denen es keine Müllabfuhr gibt, in denen sich niemand um auslaufendes Öl aus alten Autowracks kümmert.
Die Kultur der Nachhaltigkeit, in der alles geehrt und verwertet wurde, wurde bestimmt durch die Achtung des Geistes “unserer Großväter”. Die Weisheit der Alten wurde geschätzt, sie war die Gegenwart der Vergangenheit: “Walk on the Breath of Our Grandfathers.”
Der Großvater als Symbol des Vergangenen, aber noch Bekannten? Als Verbindung zur Geschichte, zu den Wurzeln? Kreislauf, großer Kreislauf – das ist immer wieder Thema, wenn es um die großen Fragen nach Herkunft und Bestimmung geht. Wir alle werden Vergangenheit sein, aber auch Zukunft.
In diesem Kreislauf sind wir Menschen nur ein kleiner Teil. Tiere, Pflanzen, Wasser, Luft – alles ist Teil dieses Kreislaufs und darin beliebig austauschbar. Tiere haben bei den Natives auch ganz besondere Bedeutungen. Das fasziniert mich besonders. Sie werden als Symbole für bestimmte Eigenschaften geehrt, die einem Stamm besonders wichtig ist.
Die ‘Ksan verehren insbesondere den Frosch, den Bären, den Raben und den Biber. Sie zeigen das mit ihrem Totempfählen. Der Frosch steht für Wasser und dessen Energie, Medizin, Wiedergeburt, Frieden und Kraft. Der Bär für den Wächter der Welt, für Mut, Willenskraft und große Stärke. Den Biber sehen die ‘Ksan als Symbol für Bestimmtheit, Baumeister, Beschützer.
Mir selbst imponiert der Rabe besonders. Ich habe schon immer ein besonderes Gefühl, wenn ich die schwarzen Vögel beobachte – vor allem, wenn sie in großen Scharen zusammen sind. Alan Parsons Projects “Tales of Mystery and Imagination”, Alfred Hitchcocks “Die Vögel”, Edgar Allan Poes “The Raven” und nicht zueltzt Otfried Preußlers “Krabat” haben mich sicherlich beeinflusst.
Auch bei den ‘Ksan steht der Rabe für Magie, für Zauber, für Selbstbeobachtung, Selbstbewusstsein und Mut.
Und genau in dem Augenblick, in dem ich darüber nachdenke, setzt sich ein Rabe auf den Totempfahl, der mir am nächsten ist.
Jedes Tier, das ein Native früher tötete, gab seinen Geist und Teile seiner Eigenschaften an den Jäger und an den, der Fleisch, Feder, Fell, Zähne oder sonstige Körperbestandteile zu sich nahm oder an sich trug, weiter. Die Natives dankten dem Tier dafür und verwerteten es komplett. Was nicht verwertet werden konnte, wurde verbrannt und so an den großen Kreislauf zurückgegeben.
Ich selbst gewinne aus der Idee von Kreislauf und Nachhaltigkeit auch für mich Kraft und Zuversicht. Nicht nur als bewusst handelnder Mensch sondern durchaus auch spirituell. Und kognitiv: Um denken und mich bewegen zu können, benötige ich Energie. Energie, die ich in Form von Nahrung zu mir nehme. Mein bewusstes und sogar unbewusstes Leben basiert also auf der Verwertung von Pflanzen, Eiern, Fisch, Fleisch, und so weiter.
Ein Wissenschaftler würde die Tatsache, dass eine Pflanze oder ein Tier in uns weiterlebt, in etwa so formulieren: Die in Form von Kohlenhydraten und Eiweißen gebundene chemische Energie unserer Nahrung wird im menschlichen Körper zu elektischer Energie zum Denken und zu kinetischer Energie zum Bewegen verstoffwechselt.
Nur kenne ich keinen Wissenschaftler, der sich bei seiner Nahrung dafür bedankt, dass er durch sie leben kann.
Ich bekomme durch den Besuch dieses historischen Dorfes eine Ahnung von der Achtung, mit der die Natives sich selbst und der Natur begegneten. Auf der anderen Seite weiß ich aber auch, dass sich benachbarte Stämme immer auch gegenseitig bekriegten und Feinde dermaßen folterten, dass es mir schwer fällt, das alles zu einem positiven Gesamtbild zu verknüpfen.
Ich selektiere das, was zu mir passt und bin zufrieden.
Was mir noch imponiert, ist die Idee der “Feasts”: Eine Art Flohmarkt, der regelmäßig stattfand und mit großen Festen gefeiert wurde. Dabei brachte jeder Einwohner etwas aus seinem Haus mit, was entweder doppelt vorhanden war oder was übrig war und was jemand anders brauchen könnte. Auch Essen und Trinken wurde mitgebracht. Alles wurde im “Feast-House” auf eine Bühne gelegt. Nach festgelegten Regeln konnten sich dann alle etwas von der Bühne mitnehmen. Der Eingang des Feast-House führte durch einen Totempfahl und war so konstruiert, dass nur eine Person gleichzeitig rein oder raus gehen konnte. Das sollte der Sicherheit vor Überfällen dienen und die Bewachung des Eingangs erleichtern.
Die Feasts wurden in der Regel nach den Toden von bedeutenden Einwohnern des Dorfes gefeiert und stellten auch eine Art Dankbarkeitsritus dar.
Im Museumsshop kaufe ich mir einen handgemachten Gürtel aus Leder. So habe ich ein Erinnerungsstück an diese Gedanken für meinen irgendwann wieder kommenden Alltag im Büro und zuhause.
Es ist Mittag, als ich Hazelton verlasse. Kurz vor dem Yellowhead finde ich eine Bank mit einem wunderbaren Blick auf die Seven Sisters – eine Berggruppe am Yellowhead Richtung Westen – und das Tal des Skeena River. Ich setze mich noch ein paar Augenblicke hin, um das Gebiet der ‘Ksan auszumessen und stelle mir vor, ich wäre einer von ihnen und würde hier über meine Jagdgründe schauen.
In New Hazelton direkt am Yellowhead kehre ich in ein “Restaurant” ein. Ich weiß gar nicht, was die anbieten, aber irgendwas werden die schon haben.
Ein total netter Hongkong-Chinese, der trotz 30 Jahren Aufenthalt in New Hazelton immer noch ein grottenschlechtes Englisch spricht, begrüßt mich mit dem typisch asiatischen Lächeln und bittet mich, Platz zu nehmen.
Ich frage nach seinen Spezialitäten. Als wenn es direkt aus einem Film über Vorurteile käme: “Wolm Maffin wit battel and salt”. Warme Muffins mit Butter und Salz. Hmm… Wie jetzt – warm? Ja – direkt aus dem Ofen, nicht aus der Mikrowelle.
OK. Ich bestelle zwei und eine große Tasse Kaffee.
Es dauert tatsächlich rund zehn Minuten, bis die Muffins vor mir auf dem Tisch stehen. Und was soll ich sagen? Es sind keine süßen Muffins, wie ich sie bisher kennenlernte sondern eher neutral mit einem etwas festeren Teig als sonst. Mit Butter und Salz jedenfalls lecker. Und gut für meine Kraftwerke in den Beinen. Noch etwas Zucker in den Kaffee und ich bin bereit für viele Kilometer.
Am Nachmittag kommen Regenwolken auf.
Ich bin kurz vor Moricetown und kann mir vorstellen, schon jetzt mein Zelt aufzuschlagen, um Schutz vor dem Regen zu haben. In Moricetown selbst wird der Himmel sehr dunkel und ich frage eine Frau auf dem Bürgersteig, ob es hier in der Nähe einen Campground gäbe. Sie versteht mich überhaupt nicht und ich will weiterfahren. Da sehe ich im Hintergrund auf einer Veranda eines kleinen Hauses einen Mann winken. Zuerst denke ich, er meint die Frau. Nachdem diese sich aber abgewendet hat und der Mann immer noch winkt – mich zu sich winkt, fahre ich hin.
“Hey, what’re you look’n for?” fragt mich ein ziemlich untersetzter Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem noch freundlicheren Lächeln. Ich suche einen Platz zum Zelten für eine Nacht, antworte ich. Matt stellt sich vor und bietet mir seinen Garten an – er habe ihn schließlich gerade frisch gemäht.
Das Angebot nehme ich gerne an und biete meinerseits an, das gekaufte Abendessen mit ihm zu teilen. In klassischer “Feast”-Tradition. Matt ist tatsächlich einer der First Nations, von den Dakelh People oder auch Carrier-Indianern.
Nachdem das Zelt steht, darf ich bei Matt duschen und während ich das tue, ruft er Kenny zu sich, der im Nachbarhaus wohnt. Beide sind ledig und wohnen jeweils allein. Bei Kenny kann ich dann meine Wäsche waschen und trocknen.
Matt und ich essen gemeinsam zu abend und er erzählt mir seine Geschichte. Arbeit? Hier? Fehlanzeige. Er lebt von ein wenig Stütze, von der Hilfe seiner Stammeskameraden und vom Fischfang. Im Skeena River und in nahen Seen haben die Natives ein unbegrenztes Recht, Fische zu fangen und zu verkaufen. Den Namen “Dakelh” oder “Carrier” haben sie, weil sie traditionell – wenn Väter oder Großväter starben – einige kleine Knochen oder Teile der Asche ihrer Väter oder Großväter in einem kleinen Rucksack auf dem Rücken tragen, solange sie um die Verstorbenen trauern.
So wie es im Dorf meiner Großeltern in Nordhessen Tradition war, während der Trauerzeit schwarz zu tragen, wenn ein nahestehendes Familienmitglied gestorben war.
Es ist schon interessant, in welchen Denk-, Glaubens- und Ritusmustern sich Kulturen aus unterschiedlichsten Regionen der Welt abgrenzen, aber auch gleichen.
Fast allen ist heutzutage gemein, dass die Vielfalt der Riten abstirbt.
Wir sorgen ja insgesamt dafür, dass Vielfalt abstirbt. Egal ob nun bei den Riten oder bei den Tier- und Pflanzenarten, beim Essen, beim Trinken, beim Informieren, beim Kinogehen, und so weiter: Je einfacher die Welt ist, desto komfortabler. Und mal ehrlich: Wer braucht schon Galloway-Rinder, wenn McDonalds die gar nicht verarbeitet? Oder wer braucht schon Frankfudder Äbbelwoi, wenn die EU den gar nicht subventioniert? Wer braucht schon wissen, dass er von Menschen belogen wird, die mit Bundeskanzler und Bundespräsident auf Du und Du stehen, Unsummen an Wahlkampfhilfen überweisen und dann per Gesetz protegiert werden? Wer braucht schon Charlie Caplins “Modern Times”, wenn in Hollywood mit 3D-Trash viel mehr Geld gemacht werden kann?
Nee, das könnte ja dazu führen, dass unsere Spaßgesellschaft gestört wird, dass wir räsonierten, mündig würden, und möglicherweise unbequem. Unseren Politikern Verantwortung für ihr Tun abfordern würden. Wer will das schon?
Matt bietet mir an, im Haus zu schlafen. Das lehne ich dankend ab und verabschiede mich nach draußen. Morgen früh wollen wir nochmal zusammen frühstücken bevor ich weiterfahre.
Das war ein glücklicher Tag für mich. Ich bin wo ich bin, bleibe wann ich will, fahre weiter wenn ich Lust habe. So macht das Leben Spaß.
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