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28.9.2015: Morgens Kühe, abends Paris

Herrje, es ist ja noch kälter als letzte Nacht – Faro, ich hätte dich so gern besucht.

Am Morgen werde ich von der Kälte geweckt, kuschel mich noch ein wenig in den Schlafsack und raffe mich dann aber auch auf. Zum Glück scheint gleich die Sonne, der Nachtnebel ist schon verzogen.

Ich bekomme Besuch. Mindestens zwanzig Kühe stehen um mich herum. Ich weiß, dass die manchmal gar nicht so friedvoll sind wie sie immer tun. Aber ich bin schon als kleiner Stöppke auf den Kuhwiesen meines Onkels rumgelaufen und habe versucht, die Kälber zu reiten. Was mir natürlich nie gelungen ist.

Ich packe ruhig und gelassen meine Sachen zusammen, schiebe mein Rad – ein komplettes Kuhrudel hinter mir herziehend – über die Wiese zur Straße, passe auf, dass die Kühe nicht mit durch’s Gatter huschen und fahre weiter Richtung Südwesten.

Ich beginne, die Franzosen zu mögen. Es gibt hier noch viele kleine Höfe, Felder, Weiden und Wiesen. Ich habe das Gefühl, dass Brüssel hier in Frankreich viel weiter weg ist als in Deutschland. Es gibt auch immer wieder Plakate, die den Unmut der französischen Bauern gegenüber der Standardisierung, Normierung und Subventionierung von Großbetrieben verdeutlichen. Die Franzosen scheinen sich nicht alles gefallen zu lassen, was aus Europa kommt. Sehr sympathisch, das Volk. Ich bin überzeugt: Wenn es in Europa irgendwann mal wieder zu einer Revolution kommt – wofür oder wogegen auch immer – sie wird ihren Ursprung in Frankreich haben. Die Deutschen können Gehorsam, die Franzosen Revolution. Die Deutschen können Vernunft, die Franzosen Skepsis.

Die Sträßchen hier lassen sich gut beradeln, es herrscht nur wenig Verkehr und die Autofahrer sind freundlich und rücksichtsvoll.

Ich stelle fest, dass ich gestern nur sechs Euro ausgegeben habe.

Dafür kaufe ich mir auf einem Hofladen jetzt einen Rochefort und einen Chausson und ein frisches Baguette und beschließe, fortan nicht mehr aufs Geld zu achten oder an es zu denken. Ach ja, Gott in Frankreich, guten Appetit.

In Sant Quentin komme ich direkt am Bahnhof vorbei und überlege, ob ich mir die Fahrt durch die Vororte nach Paris nicht spare und direkt von hier mit dem Zug in die französische Metropole fahre. Außerdem spare ich dann einen Radtag und könnte den durch eine Radtour durch Paris ersetzen.

Ja, das hört sich attraktiv an und so sitze ich bald im Zug nach Paris, Gare du Nord.

Ganz in der Nähe nehme ich mir ein kleines Hotel mit dem typischen Über-den-Dächern-von-Paris-Blick, wasche meine Wäsche, lade meine Batterien auf und stelle mal wieder fest, dass Paris schon ‘ne geile Stadt ist.

27.9.2015: In Belgien gibt’s gar keine Fritten, dafür Döner und Reis mit Camembert

Ach du meine Güte, ist das kalt nachts. Ich habe nur meinen 500-Gramm-Schlafsack eingepackt, lege noch meine Regenjacke drüber und mir die Kapuze über den Kopf. Die Beine ziehe ich an und binde das Fußende ab. So wird mir wieder warm.

Mein Tacho zeigt eine Tiefsttemperatur von vier Grad im Zelt an.

Draußen ist es zwar hell, aber neblig. Die Sonne ist irgendwo über dem Nebel. Damit habe ich natürlich nicht gerechnet: Es ist gar nicht so lange hell wie sonst im Frühjahr oder Sommer. Und die in der Wettervorhersage versprochenen Temperaturen von über zwanzig Grad liegen zwar an, aber nur mittags gegen zwei Uhr für zirka zehn Minuten.

Davor und danach ist es kalt.

Egal, rauf auf’s Rad und losfahren. Warmfahren. Warmbleiben.

Langsam kommt die Sonne durch und ich ziehe eine Schicht nach der anderen aus.

Es geht immer an der Maß entlang, durch Industrie-Orte, durch Fabriken, durch Stahlanlagen. Es geht nicht entlang an Bäckereien, Cafés, Pommes-Läden. Dafür immer wieder Döner-Buden.

Auf einem Flohmarkt esse ich ein Baguette, was lecker ist. Ansonsten ernähre ich mich von meinen mitgenommenen Nüssen. In Frankreich werde ich die Vorräte dann wohl wieder auffüllen können.

Abends bin ich dann schon in Frankreich, koche mir Reis mit Camembert. Man mag es nicht meinen, aber es ist lecker. Was vielleicht auch an meiner allgemeinen Unterzuckerung liegt. Meine Beine sind leer wie eine Tonerpatrone im Büro, wenn man den Drucker am dringendsten braucht. 115 Kilometer, gute fünf Stunden reine Fahrzeit, knapp 600 Höhenmeter stehen auf der Uhr und zeigen an, warum das so ist.

Jetzt habe ich mein Zelt auf einer Kuhwiese aufgestellt, die Abendsonne wärmt mich noch ein wenig, bevor sie dann untergeht und der aufkommende Nebel mich ins Zelt schickt.

26.9.2015: Prolog, Zug nach Aachen, Männergruppe mit Bier, Lüttich und unerwartete Kälte

Prolog:

Im Herbst 2015 unternehme ich eine Herbstreise mit dem Fahrrad nach Madrid. Lennart studiert dort, mein Besuch bei ihm ist der eigentliche Grund meiner Reise. Also ist es ein Familienbesuch.

Ich überlege, von Hannover direkt nach Madrid zu fahren – dann verpasse ich aber viele Sehenswürdigkeiten, die in meinen Durchgangsländern liegen. Also plane ich mit Bus und Bahn.

Paris soll auf der Strecke liegen, die Loire mit ihren Schlössern, Bordeaux mit den Weingütern, der Atlantik, die Pyreneen und dann ein Stückweit der Pilgerweg des Jakob. Will sehen, was es mit dem Pilgern so auf sich hat. Ob man sich da wirklich finden kann.

Auf jeden Fall will ich dem Denken einen großen Raum geben in diesen drei Wochen. Dem Reflektieren und dem Zu-Ende-Denken.

Wenn ich Bus und Bahn in meine Planung einschließe, brauche ich nicht in Hannover losfahren. Deutschland kenne ich nun gut genug, aber dennoch will ich von Deutschland aus losfahren. Also kaufe ich ein Zugticket nach Aachen.

Reise:

Ich starte um halb zwei in Aachen. Es ist eine Herbstreise durch Westeuropa, ich bin gespannt, was auf mich zukommt. Gestern erst habe ich mich entschieden. Habe meinen Flug nach Faro storniert, um von Deutschland nach Madrid zu fahren. Oder nach Santiago de Compostela, ich weiß es noch nicht. Lennart studiert seit dem Sommer in Madrid und ich will ihn besuchen.

Vor vier Wochen buchte ich einen Flug nach Faro, um durch Portugal über Santiago nach Madrid zu fahren. Drei Wochen waren geplant. Nun sagt die Wettervorhersage für die nächsten zehn Tage wunderbar ruhiges Herbstwetter für Belgien und Frankreich an mit Temperaturen von bis über zwanzig Grad. Na dann fahre ich doch von Deutschland nach Madrid. Das ist doch mal ein Plan. Deutschland selber kenne ich nun schon gut genug, also fahre ich mit dem Zug bis Aachen, um dann durch Belgien über Paris an die Loire zu fahren. Dann zum Atlantik, den dann runter bis in die Pyreneen und dann auf dem Pilgerweg erstmal bis Burgos. Dann kann ich mich entscheiden, ob ich weiter pilgern will oder links nach Madrid abbiege. Von Santiago würde ich dann mit dem Bus oder Zug nach Madrid fahren.

In den Zug nach Aachen steigt in Dortmund eine Männergruppe aus Kamen. Es sind rund zehn Jungs, alle haben große Bierdosen in der Hand, es sind wohl weder die ersten noch die letzten. Lustig ist es mit ihnen. Ich kann nicht plausibel darlegen, dass ich in Aachen aussteige und nach Madrid radeln will. Ich kann auch nicht plausibel darlegen, dass ich Bier nicht mag. Und auch keine 11-Tage-Pauschal-All-Inclusive-Schiffsreisen ab Antalya durchs Mittelmeer. Ich ernte ernsthaftes Kopfschütteln.

In Aachen steige ich aus dem Zug und – friere. Shit, wäre ich doch mal nach Faro geflogen. Ich überlege, ob ich erstmal in einen Klamottenladen gehe und mir noch zwei bis drei Lagen Unterwäsche kaufe. Schnickschnack, dazu muss ich frieren, obwohl ich alles an habe, was in den Packtaschen drin ist. Ach ja, weil ich rund zwanzigtausend Höhenmeter kalkuliere, habe ich so wenig wie möglich eingepackt, vertraue auf das Zwiebelprinzip.

Die ersten zehn Kilometer aus Aachen raus sammel ich schon mal gleich 500 Höhenmeter, mir ist warm. Vom Turm am Dreiländereck schieße ich ein paar Fotos, dann bin ich schon in Belgien. Hier fuhr ich noch nie Rad. Nett ist es hier, gemütlich. Die Radwege sind wunderbar ausgebaut, die Häuschen erinnern mich an Holland, die Landschaft an Nordhessen.

Bald schon erreiche ich Lüttich, wo ich versuche, ein paar belgische Pommes zu essen. Fehlanzeige. Es gibt nur Döner.

Ab Lüttich ist Belgien dann Industrieland.

In irgendeiner kleinen Stadt suche ich einen Campingplatz, der in meinem Archie-Verzeichnis auf dem Garmin eingezeichnet ist. Ich finde nix, merke dann aber, dass der Platz schon geschlossen ist und daher keine Schilder mehr irgendwo rumstehen. Na, das ist mir ja reichlich egal, ich stelle mein Zelt auf dem geschlossenen Zeltplatz auf, die Wasserhähne an den Wegen funktionieren noch und so kann ich mich sogar duschen. Aber kalt ist das.

Ich habe heute 85 Kilometer geschafft, mit rund 700 Höhenmetern, in vier Stunden. So kann’s weitergehen.