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24. Mai 2009

Heute habe ich meinen Kilometerrekord geschafft: 769! Von Chistochina am Glenn Highway bis nach Whitehorse in Kanada. Rund 80 Kilometer mit dem Rad, den Rest mit einem dieser Riesentrucks.

Nach kalter Nacht und warmem Frühstück fahre ich bei schönstem Wetter los. Wegen der Kälte vergesse ich, mir die Hände und die Waden mit Sonnencreme einzuschmieren. Das rächt sich. Bereits nach zwei Stunden merke ich den Fehler.

Ich ziehe mir die lange Hose und die dicken Handschuhe an. Aber auch das verdirbt mir meine Laune nicht – die Weite dieser Landschaft ist unvergleichlich.

Wolken als Werk des Windes

Ein Berg in der Ferne wirkt wie ein Spoiler: Die warme Luft aus Osten wird nach oben abgelenkt, sie kondensiert in den oberen Schichten und es bildet sich ein Schweif über dem Berg. Einzigartiges Naturschauspiel. In solchen Momenten bin ich froh, das Fahrrad als Verkehrsmittel gewählt zu haben: Ich kann meine Klamotten dranhängen, habe ein Tempo, das mich ausreichend schnell für die Reiseziele und ausreichend langsam für die Natur sein lässt. Ich bin den Elementen direkt ausgesetzt und kann den Wechsel von Tageszeiten und Landschaften stetig beobachten.

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Irgendwann höre ich ein ungutes Knallgeräusch hinter mir. Als hätte jemand ein unter Spannung stehendes Stahlseil durchgeschnitten. Ich fühle, dass die Hinterradbremse bei jeder Radumdrehung einmal kurz an der Felge schleift. Scheibenkleister – Speichenbruch.

“Macht nochmal eine Inspektion” sagte ich kurz vor der Abreise zu meinem Radhändler. Die Räder seien gut ausgewuchtet und zentriert, sagten sie. Die Rohloff-Nabe würde ja dafür sorgen, dass die Räder symmetrisch eingespeicht werden und damit ein Speichenbruch absolut unwahrscheinlich wäre.

Das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Bis Tok sind es noch rund 60 Kilometer und das ist der nächste Ort. Wenn ich weiterfahre, knallt bald die nächste Speiche, da das komplette Hinterradsystem auf sich ausgleichende Spannungen ausgelegt ist.

Speichenbruch, 700 Kilometer vor dem nächsten Radladen

Ich lerne, dass es nicht reicht, einfach nur eine Ersatzspeiche mitzunehmen sondern auch einen passenden Nippel, da die Speiche direkt im Nippel gebrochen ist und ich den Rest da nicht rauskriege. Ursache für den Speichenbruch genau im Nippel ist die Tatsache, dass ich zwar mit meinen 26-Zoll-Rädern sehr stabile Räder habe, aber durch den großen Durchmesser der Rohloff-Nabe ist die Entfernung zwischen Nabenflansch und Felge so gering, dass die Speichen bereits im Nippel an der Felge beginnen, sich nach der Nabe auszurichten. Das führt zur Sollbruchstelle für die Speiche.

Hinterher erfahre ich von Riese und Müller, dass das konstruktiv durchaus nachvollziehbar sei und eine Felge mit schräg gebohrten Nippel-Löchern die bessere Wahl sei. Echt klasse! Da bauen die Fahrräder für die Weltreise, kommen durch Nachdenken auf gute Lösungen, setzen sie aber nicht um.

Genau vier Speichen neben der gebrochenen klebt ein Schild auf der Felge: “Handcraftet by Riese und Müller Wheel Team”. Meine Wut wächst. Denen werde ich was erzählen…

Aber all der Ärger hilft mir jetzt nicht weiter. Ich fahre mit meinem Rad weiter bis zum nächsten Parkplatz direkt am Highway.

Das Glück ist mit den Radlern: Auf dem Parkplatz steht so ein Riesenmonstrum von Lastwagen mit einem leeren Auflieger – eine einfache Holzpritsche mit drei Achsen drunter.

Der Fahrer sitzt in seinem Führerhaus und liest Zeitung.

Fragen kostet nix, ich klopfe an. Die Tür öffnet sich und ein freundliches männliches Gesicht mittleren Alters mit langen Haaren drüber schaut zu mir runter. Na ja – die Brille ist so dick und verschmiert, dass ich nicht weiß, ob der Mann wirklich erkennt, wer da unten steht.

Ich erzähle von meinem Missgeschick und frage ob ich bis Tok mitfahren könne.

Auf dem Land und in der Wildnis Alaskas sind die Menschen gegenseitig auf Hilfe angewiesen – niemand wird abgewiesen, wenn es nicht wirklich einen triftigen Grund gibt. Und so scheint es selbstverständlich, dass der Trucker aussteigt, sich mein Gefährt anschaut und mir den Anhänger anbietet, nicht ohne vorher zu kommentieren: “There’s nothing more you can put on that bike, eh?”

Ich binde Zelt, Schlafsack und Isomatte los, hänge die Packtaschen ab, und wuchte das Interconti hoch zu Randy, der es in der Mitte des Trailers auf die Seite legt, ein paar Zurrgurte drumwickelt und deren Enden dann irgendwo am Rand der Ladefläche festzieht. Runterfallen kann mein Rad jetzt jedenfalls nicht mehr.

Mein Gepäck verfrachte ich in die Kabine und klettere auf den Beifahrersitz.

Meine Güte, ist das groß hier! Ich schätze die Höhe der Kabine auf gut zwei Meter und hinter mir ist noch ein Schlafzimmer mit Doppelstockbett. Es sieht zwar aus wie Kraut und Rüben, aber dennoch wird dadurch die Großzügigkeit des Innenraums nicht beeinträchtigt.

Randy startet den Motor, mein Sitz vibriert nicht, er schüttelt sich. Randy sieht aus wie fünfzig, ist aber erst kurz über vierzig und schon zweifacher Großvater. Stolz erzählt er von seinen beiden Enkeltöchtern. Seine Familie lebt irgendwo in Montana, er arbeitet für eine Spedition in Anchorage, Alaska und muss jetzt nach Las Vegas, Nevada, um dort eine Maschine abzuholen und sie nach Fairbanks, wieder Alaska, zu bringen. Meist ist er sieben Tage die Woche unterwegs, sieht seine Familie kaum. Und das für “Sixty K Bucks” – 60 Tausend Dollar.

Mein Glück ist, dass fast alle Trucks leer in Richtung Süden fahren, da in Alaska nichts produziert wird, was in den Lower States, in Kontinental-USA, verkauft werden könnte. Fische bringt man nicht erst in Alaska an Land sondern schippert sie direkt nach San Francisco oder Los Angeles. Und Alaska lebt nun mal vom Erdöl, was per Supertanker transportiert wird.

Randy schätzt, dass er drei Tage nach Las Vegas braucht. Der Alcan Highway ist jetzt im Frühjahr schlaglochzersetzt und da könne er den Fuß nicht immer auf dem Gaspedal stehen lassen. Er hat noch einen älteren Truck und fährt ohne Navi und Tempomat – das bringt mehr Gefühl für das Gefährt und die Straße, sagt er.

Was ich denn in Tok wolle, fragt er. “Spokes and nipples”, antworte ich.

Randy lacht und klärt mich auf: Das was ich mit “Nippel” meine, sei wahrscheinlich ein “fitting” – für “nipples” kenne er nur eine Bedeutung und die erinnere ihn eher an weiche Rundungen als an spitze Speichen und harte Felgen.

OK – daran habe ich irgendwie schon lange nicht mehr gedacht…

“Warst Du schon mal in Tok?” reißt er mich aus meinen Gedanken.

“Bisher noch nicht.”

“Dort können sie Dir an einer Tankstelle vielleicht Speiche und Nippel wieder zusammenschweißen, aber einen Fahrradladen gibt’s da nicht.”

“Und wo ist der nächste Fahrradladen?”

“In Whitehorse.”

Whitehorse – das ist doch die Zwischenlandungsstation vom Hinflug, mitten in Yukon. Von dort bin ich noch zwei Stunden geflogen bis Anchorage. Das müssen also noch rund tausend Kilometer sein. Eigentlich wollte ich Rad fahren.

“Fährst Du da hin?”

“Ja, will dort übernachten.”

“Nimmst Du mich mit?”

“Ja – nur müssen wir uns an der Grenze nach Kanada noch was überlegen.”

“Warum?”

“Die stellen sich immer ziemlich pingelig an wegen der Zollformalitäten. Wenn ich Dein Rad hinten drauf lasse, muss ich Einfuhrzoll bezahlen.”

“Hmm…”

“Kein Problem: Ich halte kurz vor der Grenze an, wir laden das Rad ab, fahren getrennt über die Grenze, hinter der Grenze warte ich auf Dich, wir laden das Teil wieder auf und fahren nach Whitehorse.”

OK. Ich bin froh, dass das geregelt ist. Randy ist total nett und wir haben interessante Gespräche. Auch wenn er Jäger und Fallensteller ist, interessiere ich mich für seine Art zu leben. Jagen und Angeln ist hier ein Stück Kultur. Die Natur bietet einen reichen Schatz – “There’s so much!”.

Mit einer Diskussion über Ethik, Sinn und Unsinn von Jagden brauche ich gar nicht erst anfangen. Und Randy vermittelt mir ein Gefühl von Ehrfurcht vor der Natur, ihren Geschöpfen und vor dem was er tut. Früher waren wir doch auch Jäger – reduziert auf krude Triebe gibt es zwischen den Spezien nun mal nur Jäger und Gejagte. Schließlich könne er doch in der Wildnis auch schnell zum Gejagten werden, wenn er Bären begegnet.

Während er die Reisegeschwindigkeit zwischen 120 und 130 km/h hält, schaue ich immer mal wieder in den Rückspiegel – kann mein Gefährt gut erkennen. Highways in Alaska und Kanada haben die Eigenschaft, dass sie manchmal plötzlich Gravelroads sind – Schotterstraßen. Das hat mit dem Permafrostboden zu tun. Wenn der Winter an einigen Stellen zu hart an den Straßen arbeitet, lohnt sich eine Asphaltdecke nicht, da diese einfach zerspringt, platzt und Riesenstücke entstehen, die von den Trucks rausgerissen werden.

Da kommen dann eben im Frühjahr die Gravel-Maschinen, streuen Schotter und walzen den fest. Das funktioniert ganz gut. Hier oben fährt ja auch fast jeder irgendwelche Geländekisten, Pickups oder Trucks. Und ich ein vollgefedertes Interconti. Wenn es denn funktioniert.

Auf den Schotterstücken sehe ich im Rückspiegel nichts mehr – das heißt: Außer Staub nichts mehr.

Die Schlaglöcher, die jetzt schön tief sind, halten Randy nicht vom “Cruisen” ab. Wenn er ihnen nicht ausweichen kann, fährt er einfach drüber. So ein Truck ist ja aus fahrtechnischen Gründen kaum gefedert. Was das Fahrwerk nicht schluckt, muss der Sitz ausgleichen. Der Fahrersitz bewegt sich irgendwie eliptisch vor, zurück, hoch und runter. Das ist ein echtes Meisterwerk, Randy schaukelt beruhigend vor seinem riesigen Lenkrad. Der Beifahrersitz bewegt sich auch. Aber nur hoch und runter. Das Schlagloch kommt, der Truck erhält einen Mordsschlag. Mein Sitz wird nach unten gedrückt, der Gasdruckdämpfer im Sitzfuß wird zusammengepresst und dehnt sich sofort wieder aus. Das schleudert mich nach oben und ich weiß jetzt, warum die Kabine so hoch ist.

Die Grenze zu Kanada passieren wir gegen 21 Uhr. Wir machen es wie besprochen. Ich fahre getrennt von Randy, lasse mir den Ausreisestempel in meinen Reisepass eintragen und schiebe das Rad noch 200 Meter zu dem wartenden Truck. Die Zöllner beobachten das gelassen – formal ist doch alles geregelt.

Eine Einladung zu einem Abendessen in ein Trucker-Restaurant am Highway überrascht meinen Chauffeur. Sowas wäre doch gar nicht nötig. Ich bestehe auf meiner Einladung und so essen wir bei Burwash Landing die obligatorischen Hamburger und trinken Kaffee.

Hier sehe ich auch die ersten Grizzlys am Straßenrand – es seien keine Cubs, keine kleinen mehr, sondern geschätzte drei bis vier Jahre alt, meint Randy. Sie streunern rum auf der Suche nach Nahrung.

Ein Bär hat letztlich drei Hauptaufgaben: Fressen, schlafen, fortpflanzen. Die ersten beiden beschäftigen ihn zu mehr als 90% seiner Lebenszeit. Und Menschen stehen auf dem Speiseplan. Randy erklärt, dass wir zwar erst an zehnter oder elfter Stelle kämen, nach so leckeren Speisen wie Fisch, Beeren oder frisches Gras. Aber manchmal sehnen sich auch Bären nach Abwechslung beim Essen. Und dann wird’s gefährlich.

Abendstimmung am Yukon River in Whitehorse

Um 2 Uhr kommen wir in Whitehorse an. Auf der Tankstelle an der Hauptstraße verabschiede ich mich von Randy, gebe ihm meine Email-Adresse und weiß, dass er nicht schreiben wird.

Das sind Begegnungen, die einmalig sind. So einmalig wie die Menschen und die Natur hier. Auf der ganzen Fahrt habe ich nicht ein einziges Mal daran gedacht, ein Foto von Randy oder seinem Truck zu schießen – es hätte einfach nicht gepasst, etwas von der Harmonie gestört, die sich zwischen uns aufbaute. Am Ende waren wir beide dankbar: Er hatte 700 Kilometer Abwechslung und ich letztlich auch. Dass mein Radtransport da zur Nebensache wird, überrascht mich. Wieder Glücksgefühle. Deshalb bin ich unterwegs.

Mein Rad hat die Tortur auf dem ungefederten Trailer überlebt, nur ist es nicht mehr schwarz sondern grau vom Staub.

Ich suche mir einen Zeltplatz. Das ist hier einfach, da es nachts nicht dunkel wird. Der Himmel glüht im Norden, das ist ein irres Gefühl. Ich werde irgendwann mal nachts aufbleiben und fotografieren – die ‘Nacht’ dauert ja nur zwei Stunden.

Im Zelt liegend merke ich jetzt erst, wie müde ich eigentlich bin. Zufrieden und glücklich schlafe ich ein.

23. Mai 2009

Schiet, was war das kalt letzte Nacht! Das Wasser in der Flasche am Rad ist gefroren – ich kenne jetzt den Unterschied zwischen Komfortbereich und Überlebenszone bei meinem Schlafsack.

Mein Seiden-Inlett ist Gold wert! Es ist ein wunderbar kuscheliges Gefühl, da mit nackten Beinen reinzusteigen und außerdem gleicht es nochmal zu den angegebenen Schlafsack-Temperaturbereichen -5 Grad Celsius nach unten aus.

Da ich weder Stuhl noch Tisch mit habe, erfreue ich mich an dieser profanen Bank-/Tisch-Kombi, die es überall auf den Campgrounds in Nordamerika gibt. Ich kann mir ein leckeres Frühstück kochen, muss keinen sicheren Kocherstand improvisieren und nicht auf irgendeinem harten Stein oder Baumstumpf sitzen, nach vorn übergebeugt, den heißen Topf in der einen, die Gabel-/Löffel-Kombi in der anderen Hand.

Spork aus Titan

Diese Gabel-/Löffel-Kombi ist teuer und gut. Mir teuer und gut. Sie heißt “Spork”, ist aus Titan und wiegt nur 16 Gramm. Eine geniale Idee, die mit Wissen und Liebe konstruiert und mit Perfektionsdrang produziert zu werden scheint. Meine bisherigen Menüs aus Haferschleim, gebratenem Mett, Reis- und Nudelgerichten, Fischsuppen, Gemüsepfannen, Joghurts, Kiwis und sonstigen Obststücken konnten das Teil noch nicht aus der Reserve locken. Selbst britisch gebratene Rindersteaks stellten das Team aus Spork und der Klinge meines Leatherman vor keine nennenswerten Hürden. Und jetzt kommts: Auch das Wickeln von Spaghetti funktioniert! Ja. Ich bin überzeugt. Das einzige was mich nicht überzeugt, ist die deutsche Übersetzung für Spork: “Göffel”.

Überhaupt erlaubt so eine Reise ja ganz neue Blicke auf die Materie. Vor allem, wenn von ihr der Spaß, die Gesundheit und manchmal sogar das Leben abhängt. Da gehe ich dann keine Kompromisse ein. Ich bin kein Marken-Fan, aber unterwegs stoße ich dann eben bei den teuren Sachen auf Details, die sich die Albrecht-Brüder bei ihren “Outdoor”-Sachen nicht ausdenken.

Die Erfahrungs-Datenbank bei Globetrotter und das Radreise-Forum sind nützliche Hinweis-Lieferanten.

Ich glaube, dass ich später noch über weitere Ausrüstungsgegenstände berichten kann.

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Vor zehn Uhr brauche ich hier nicht losfahren. Zu kalt.

Ich freunde mich mit Haferflocken als Haupt-Kohlenhydrat-Lieferant an. Reis braucht zu lange bis er weich ist – und damit zu viel Brennstoff.

Wie gut können eine heiße Hafersuppe und eine heiße Tasse Tee tun!

Ich lerne viele praktische Abläufe hier:

Zum Beispiel, dass ich den Kocher gut vorheizen sollte wenn ich ihn auf einem Holz-Campingtisch abstelle. Ansonsten heizt der Holz-Campingtisch den Kocher vor.

Zum Beispiel auch, dass ich mir nach dem Erhitzen des kompletten Wassers im Topf einen halben Liter Tee aufgieße. Dann koche ich mit dem Rest des Wassers meine Hafersuppe. Wenn ich den Tee zu drei Viertel ausgetrunken habe, streue ich eine Prise Salz rein, rühre um und kippe das Ganze in eine meiner Radflaschen.

Dann ist der Hafer auch durchgezogen und wird mit Honig, Rosinen und Nüssen verfeinert. Nach dem Umrühren darf ich den Spork nicht im Topf am Rand abstellen – er fällt garantiert rein.

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Heute gibt es Natur pur. Gleich nachdem ich losfahre, halte ich auch schon wieder an. Ein kleines, niedliches Tier läuft am Straßenrand rum und kaut auf frischen Trieben des dortigen Gebüschs rum. Ich nehme vorsichtig meinen Fotoapparat aus der Lenkertasche und bewege mich langsam und leise auf Zehenspitzen auf das Tier zu. Nichts passiert. Ich stelle die maximalen 80 Milimeter Brennweite ein, die mein Objektiv hergibt und drücke auf den Auslöser. Hah – ein wildes Tier im Kasten. Ich gehe noch näher ran. Noch ein Schuss. Das Tier scheint sich nicht zu stören. Ich werde forscher, fokussiere und pfeife, damit es aufsieht und ich es im Sprung fotografieren kann. Nichts.

New World Porcupine

OK. Ich überlege: Ein Tier, das kleiner ist als ich und das mich eigentlich als Jäger sehen sollte, sieht, hört, riecht, fühlt mich. Und läuft nicht weg. Entweder hat es Tollwut (hier eher unwahrscheinlich – habe jedenfalls nichts darüber gefunden) oder es fühlt sich sicher. Wenn es sich sicher fühlt, muss es irgendwas haben, das es vor Feinden schützt oder mit dem es sich wehren kann. Also bleibe ich mal besser auf 80-mm-Brennweiten-Entfernung.

Später höre ich, dass das ein “Porcupine” war, ein Stachelschwein. Porcupines haben bis zu 40 Zentimeter lange Stacheln, die einem Angreifer auch schon mal entgegenfliegen, wenn es sich schüttelt. Diese Stacheln haben die unangenehme Eigenschaft, ganz vorn schnell abzubrechen und dann bleibt die Spitze in der Wunde stecken und das entzündet sich schnell und heftig. Wenn Jäger mit ihren Hunden unterwegs sind, fürchten sie am stärksten, dass die Hunde auf ein solches Stacheltier treffen. Die Hunde kennen sich nicht aus, wollen das Tier schubsen und fangen sich die Stacheln in Nase, Lippen und Zunge ein. In schlimmen Fällen geben die Jäger einem solchen Hund dann den Gnadenschuss, bevor er qualvoll an den Schwellungen erstickt oder an den Entzündungen stirbt.

Die Lieblingsnahrung eines Porcupines ist sicherlich pflanzlicher Art. Aber auf Park- und Campingplätzen werden auch schon mal Geschichten erzählt, dass sie Gummi ganz besonders mögen. Einem Fahrradfahrer haben sie die Reifen abgeknabbert, Autofahrern mit Vorliebe Wischerblätter und Motorraum-Innereien. Ich sollte mein Rad in Porcupine-Land nachts hochhängen, wird mir später geraten…

Keine zehn Kilometer weiter sehe ich erstmals einen Weißkopf-Seeadler, das Wappen- und Siegeltier der US-Amerikaner.

Ich selbst bin auf meinen Läufen durch nordhessische und niedersächsische Wälder von Bussarden angegriffen worden. Einmal hat mich so ein Kollege sogar erwischt und mir eine schmerzhafte Schramme am Hinterkopf zugefügt. Dann greift so ein Greifvogel ja so lange an, bis man selbst aus der Dunstweite des Vogelhorsts verschwunden ist, wo die Jungen im Frühjahr eben ihre ersten Flugübungen machen. Und da das mal zu einer Bruchlandung führen kann, verjagen die Alten alles, was am Boden kreucht und fleucht oder läuft.

Und als ich nach dem Schlag auf den Hinterkopf (die greifen immer absolut geräuschlos von hinten an, die hinterlistigen Saubratzen) den Vogel schattengleich vor mir wieder hochziehen sah, um auf einem Ast zu landen – bereit für den nächsten Angriff, hatte der Bussard gefühlte drei Meter Spannweite.

So ein Adler ist nun ungefähr doppelt so groß wie ein Bussard. Und es ist Frühjahr. Und wahrscheinlich lernen die kleinen Adlerlein auch hier fliegen. Jetzt. Gefühlte sechs Meter Spannweite – schlimmer konnten die Flugsaurier von damals auch nicht gewesen sein. Ich schaue mich um und suche nach irgendwelchen Horsten. Alte Bäume und Felsklippen sind bevorzugte Basen. Ich kann keine entdecken, stelle meinen Rückspiegel so, dass ich den Himmel hinter mir sehen kann und tausche meinen Sonnenhut gegen meinen Helm. Wenn der sich in den Lüftungsschlitzen meines Helms verkrallt, nimmt der mich mit.

Vorsichtig und mich immer mal wieder umdrehend fahre ich weiter…

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Ende des Glenn-Highway

Ich bin am Ende des Glenn-Highway angelangt. Rechts geht’s nach Valdez (das mit der Ölkatastrophe von vor genau 20 Jahren), links nach Kanada. Ich halte den linken Arm raus und biege ab.

Zwei Wanderer, die ich treffe, schätzen mein Alter auf 26 Jahre! “Young Man” sagen die – wahrscheinlich sind die so alt wie ich. Ich lerne, dass sie kein englisches Wort für “streicheln” kennen. Wir reden über die Schönheit dieser Natur – vor allem am Abend, wenn die Sonne die Berge mit ihrem warmen Licht “streichelt”. Ich versuche, das zu umschreiben – keine Idee. Ich versuche, das mit Mann und Frau zu umschreiben: “Streicheln” eben. Immer noch keine Idee. Ich versuche, es mit Baby-Bauchschmerzen zu umschreiben, kreisende Bewegungen mit aufgelegter flacher Hand auf dem Bauch – keine Idee. Sie wissen was gemeint ist und finden, dass es gut wäre, ein solches Wort zu haben. In ihren Augen hat die deutsche Kultur an Wert gewonnen.

“Have you seen the bears?” fragen sie mich. Ich verneine. Sie sind jetzt aus ihrem Winterschlaf erwacht und suchen Futter. Ich scheine verrückt zu sein, mit dem Rad allein durch die Wildnis zu fahren und nachts im Wald zu zelten.

Aber ich habe weniger vor den Bären Angst als vor irgendwelchen durchgeknallten Jägern. Jagen ist hier Volkssport. Jeder darf es, jeder kann sich eine Knarre kaufen und rumballern.

Es gibt Restriktionen, ja. Aber wo kein Kläger da kein Richter. Und wo nur Jäger, da kein Kläger.

Etwas weiter begegnet mir erstmalig dieses Schild “1.000 Dollar Fine for Littering” – Strafe für Wegwerfen. Das ist echt paradox: Wenn ich eine Bananenschale wegwerfe, muss ich 1.000 Dollar berappen, wenn ich mein Auto auf mein eigenes Grundstück stelle und dort verrotten lasse, Altöl, bleihaltige Farbe, Batteriesäure, etc. ins Grundwasser sickern lasse, kostet das nichts.

Cables in the Wind

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Als Fotograf muss ich mich häufig damit abfinden, dass irgendwelche Oberleitungen im Bild rumhängen, wenn ich an der Straße stehe. Hier in Amerika kennt man unterirdische Stromnetze nicht. Während in Hannover von insgesamt über 7.000 Kilometern Stromnetz der Stadtwerke nur knapp 300 oberirdisch verlegt sind, ist das Verhältnis hier wahrscheinlich umgekehrt.

Egal – ich versuche, die Cables zu integrieren.

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105 Kilometer, 5’15 Stunden Nettofahrzeit. Nochmal gefühlte Zehntausend Höhenmeter – aber auch gute Meter bergab. Vormittags Gegenwind, nachmittags und abends Rückenwind. Deshalb fahre ich auch schon mal bis acht Uhr abends.

Am Abend finde ich einen wunderschönen Platz zum Zelten mitten im Wald – ich bin total allein.

Der Platz ist rund einen Kilometer von der Straße entfernt mitten in einer Tannenschonung. Durch die Nadeln auf dem weichen Boden und die Tannen rings um mich ist es absolut totenstill. Stille, die ich hören kann. Das ist Luxus. Das überwältigt mich. Das macht mich glücklich.

Mountain House Freeze Dried Outdoor Nutrition

Wraps in der Tüte

Als Abendessen habe ich mir heute in einem kleinen Kiosk “Mountain House”-Trockenfutter gekauft. Das ist ziemlich teures gefriergetrocknetes Essen für alle, denen es auf geringes Packmaß und Gewicht bei hohem Energiegehalt ankommt. Und wenn dann der Geschmack noch stimmt – perfekter Kompromiss. Und das ist dieses Zeugs. Und auch schön ist, dass die Alubeutel, in denen das Pulver und die Stückchen verpackt sind, als Topf dienen können. Beutel oben aufreißen, Zipper öffnen, heißes Wasser einfüllen, Zipper wieder schließen, schütteln (mit Handschuhen!), fünf Minuten warten, Zipper öffnen, mit Spork auslöffeln.

Es gibt sogar Blaubeer-Käsekuchen in dieser Tütenform. 6,50 Dollar.

OK – ich will es ja nur mal ausprobieren. Denn der Energiegehalt, der dabei drauf geht, die Verpackung und den Inhalt so herzustellen, ist sicher höher als der des Inhalts. Und so habe ich zwar immer eine Packung dabei, aber nur für den Notfall. Ich werde mir immer wieder mittags oder nachmittags in einem der kleinen Orte oder Tankstellen frisches Obst und Gemüse kaufen und das mit meinem Hafer vermischen.

Hörbare Stille!

Es war bisher ein wunderschöner Tag heute. Nur die Mücken wollen mich jetzt killen. Es ist das erste Mal, dass sie mit ihrer gefürchteten Macht angreifen. Das Bio-Öko-Anti-Insekten-Spray, das ich mir extra in Deutschland im Bioladen gekauft habe, wirkt irgendwie nicht. Ich ziehe mir meine lange Hose und meine Wetterjacke an sowie meinen Sonnenhut auf. Drüber werfe ich mein Moskitonetz, das Kopf, Gesicht und Hals schützt. Meine Bilanz bessert meine Laune wieder auf: Ich habe mehr von den Biestern gekillt als mich gestochen haben…

22. Mai 2009

So – das soll’s dann auch erstmal gewesen sein mit diesem Weichei-Schlafen in einem Bett und einem Dach über dem Kopf. Wozu habe ich mir ein 600-Euro-Hilleberg-Zelt gekauft, wenn ich drinnen übernachte?

Na ja – so ein gutes Frühstück ist schon ein Genuss. Egal – weiter geht’s.

Die Menschen hier sind wirklich herzlich und offen – ganz anders als das Image des “gemeinen Amerikaners” es vermuten lässt. Auch kann ich nicht diese oberflächliche, aufgesetzte “How’re you’re doin’ t’day”-Freundlichkeit entdecken. Ich glaube, hier draußen, hier oben sind die Menschen aufeinander angewiesen. Und in dieser Natur werde auch ich demütig. Das führt zu einer gefühlten Gemeinsamkeit – sie, weil sie hier wohnen, ich, weil ich hier Fahrrad fahre.

Würde ich hier wohnen wollen? Ich glaube nicht, denn der Alltag auf dem Land ist hart und in der Stadt, in Anchorage, vergleichbar mit dem Leben in jeder anderen Stadt auch. Dieses Land besuchen, frei und ungezwungen, das öffnet mir das Herz für die Menschen, für die Natur.

Fotografieren in dieser Landschaft ist einfach nur geil. Sehen und stehen bleiben, wo ich will – ich genieße es. Auf leeren Straßen dahin zu gleiten – ich genieße es.

Selbstportrait auf dem Glenn-Highway

In Alaska gibt es für Radfahrer drei Gegner: Den Berg, den Wind und den Moskito. Der Berg ist berechenbar. Der Wind ist nicht berechenbar, aber ehrlich. Der Moskito ist weder berechenbar noch ehrlich, aber dafür rachsüchtig – obwohl ich gar nicht weiß, was ich ihm getan habe. Der Wind ist allerdings der Gegner des Moskitos und somit manchmal in wechselnden Allianzen mein Verbündeter. Der Berg hält manchmal den Wind zurück und verbündet sich bergauf mit dem Moskito gegen mich. Auf dem Gipfel habe ich dann beide besiegt und der Berg verbündet sich mit mir gegen Wind und Moskito. Der Moskito ist nicht bündnisfähig und bleibt bis zur Rückreise mein Feind.

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Primus Eta Multifuel Kocher mit Ein-Gang-Menü

Heute mittag probiere ich erstmalig meinen Kocher aus. Da ich mich zunächst erstmal für intelligent genug halte, einen Multifuel-Kocher zu bedienen probiere ich das einfach aus. Die Bedienungsanleitung habe ich aus Gewichtsgründen natürlich zuhause gelassen.

Die Leute im Hostel in Anchorage gaben mir einen Liter Kochbenzin feinster Qualität, was ich aus deren Kanister in meine Benzinflasche umfüllen durfte. Kostenlos, selbstverständlich. Nun öffne ich also meine Benzinflasche, stecke den Kocherschnorchel in die Flasche und schraube diesen fest zu. Dann pumpen, Druck aufbauen und über das Drehventil dann ein Benzin-Luft-Gasgemisch in die eigentliche Kochdüse jagen. Wie beim Gasherd – zuhause koche ich ja auch mit Gas.

Was ich nicht bedenke, ist, dass die Schleife vor der Kocherdüse erst vorgeheizt werden muss.

Somit verwandele ich meinen Kocher in einen Flammenwerfer, was mich ziemlich erschrecken lässt. Die Waldbrandgefahr ist hier oben momentan trotz Minusgraden recht hoch, da es lange nicht mehr geregnet bzw. geschneit hat. Zum Glück habe ich meine Wasserflaschen griffbereit und kann die Umgebung befeuchten.

Ich koche mir meinen ersten Beutel Reis mit Irgenwas in Trockenversion mit originalem Alaska-Wildwasser. Schmeckt ganz gut, ich muss mir aber wohl noch Gewürze besorgen.

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Am Nachmittag merke ich, dass mir die Sonne die Lippen verbrennt. Mein Gesicht habe ich zwar spärlich eingecremt und immer meinen Hut auf, aber die Lippen halten die Creme nicht und außerdem schmeckt sie scheußlich. Neben einer Tankstelle ist ein kleiner Laden, ein “General Store”, den Rose betreut. Rose steht hinter ihrem Tresen und ist einfach nur freundlich. Erst denke ich, sie sitzt, aber sie ist wirklich nur geschätzte Einsfünfzig groß. Dafür ein Bündel voller Energie und positiver Ausstrahlung.

Bevor ich meinen Wunsch äußern kann, muss ich erstmal erzählen, wo ich herkomme und was um Himmels Willen mich mit dem Fahrrad hier her treibt. Sie kann sich’s denken, sagt sie: Das Genießen der Schöpfung Gottes. Ja. Rose ist eine gottesfürchtige Frau. Ich erzähle ihr von meinem Erlebnis mit Mary von gestern und dass ich nicht verstehen kann, warum man Berge in die Luft sprengt, damit man mit dem Auto keine Umwege fahren muss. Rose schüttelt mit dem Kopf und versteht das auch nicht. Das ist doch die Schöpfung! Und wir zerstören sie.

Die Gewehre und die Munition, die sie verkauft und mit denen dann so manch wild gewordener Amerikaner alles mögliche Getier abknallt, lassen auf eine Eindimensionalität ihrer Ansichten schließen.

Letztlich kann ich doch noch mein Kundenbedürfnis platzieren und einen Lippenstift ordern. Als sie mich fragt, welchen, bestehe ich auf einen ohne Farbe. Nach kurzer Pause lacht sie mich herzlich an und ich zahle gern den erhöhten Alaska-Tante-Emma-Laden-Preis für einen Lippenstift.

Rose in ihrem General Store

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93 km / 5’30 h, kurz vor Glennallen.

Zweite Zelt-Nacht - kalt, aber wunderbar idyllisch

Jetzt liege ich auf einem Campingplatz – es wird die zweite Nacht in meinem Zelt.

Der Platz ist wunderschön gelegen, ein kleines Flüsschen fließt mitten durch. Schade, dass der Betreiber gerade heute den Platz geöffnet hat – er will 30 Dollar für eine Übernachtung. Nach einer Minute Verhandlung und als ich mich umdrehe um wieder zu gehen, fragt er: “Would you do it for twenty?”

Die Art der Frage überrascht mich, da ich damit andere Assoziationen verbinde als zu zelten – ich willige einfach ein, auch weil der alte Mann letztlich ganz freundlich ist.

Außerdem – und das ist in Amerika fast überall so – gibt es auf fast jedem Stellplatz einen Grill und die Möglichkeit, dort Feuer zu machen. Meistens gibt’s das Holz auch noch kostenlos. Das habe ich mit meinen 20 Dollar auch bezahlt. Nur habe ich das nie genutzt. Jetzt kann ich ja mit meinem Primus umgehen…

Wäre ich gestern gekommen, hätte ich umsonst gezeltet. Dafür habe ich aber eine wunderbare warme Dusche – es ist ziemlich kalt hier oben. Das macht mir immer wieder mal deutlich, dass ich in Alaska und da auch noch auf einem Hochplateau bin. Beim Radeln in der Sonne vergesse ich das hin und wieder.

21. Mai 2009

Erste Nacht in Moose-Country

Wild gezeltet – kalte Nacht – brr… Gut geschlafen, um 8 kommt die Sonne raus, wärmt. Überall Elch-Kacke – habe gestern abend zwei gesehen.

Vor den Riesenviechern habe ich den meisten Respekt. Bären sind neugierig, klopfen an, machen sich bemerkbar, stellen sich zum Kampf. Elche? Elche nicht. Die laufen einfach drauf los. Und wenn ein Zelt im Weg steht, wo einer drin liegt, ist denen das auch egal.

Vmax 70,5!

55 km / 4:30 h / Vmax 70,5 km/h! Fährt sich wie ein Motocross-Motorrad, der vollgefederte Trecker, wenn er beladen ist. Absolut ruhig. Bin begeistert. Bergauf dann aber nicht. Gefühlt habe ich schon die ersten 25.000 von insgesamt 30.000 Höhenmetern hinter mir.

Der erste Tag, an dem ich die Weite dieses wunderschönen Landes einatmen kann.

“There’s no spot in Alaska that isn’t beautiful!” sagt ein alter Mann, der einen Handel mit alten Autos betreibt.

Der Typ ist echt schräg. Aber das sind hier alle. Wer hier lebt, muss das wohl sein. Und da ich mit einem vollbepackten Fahrrad im Land der unbegrenzten Möglichkeiten unterwegs bin, wo es doch Pickups oder Motorhomes oder Trucks gibt, halten mich die Schrägen für mindestens genauso schräg. Das sorgt für schnelles Warmwerden miteinander.

“Where’u from?”

“Germany”

“My Grandparents’re from Germany too. From Schduddgoord. Moved to Alaska in ninetyeight.”

“Oh – YOUR Grandparents are still ALIVE?”

“In EIGHTEENninetyeight you Joker!”

“Oh!”

Ich kann feststellen, dass das amerikanische Gesundheitssystem Gebissrenovierungen in den Regionen des Polarkreises nicht mit einschließt. Das hustende Lachen lässt auf einen ordentlichen Konsum von Lucky Strikes in diesem Leben schließen.

“Now I’ve got to work again!” Gibt mir seine Visitenkarte und verschwindet in der “Werkstatt”.

Schräg eben.

"I'm not posing!"

Auf seinem Hof stehen alte Chevys und Cadillacs aus den Fünfzigern und Sechzigern. Die aus den amerikanischen Gangsterfilmen mit James Cagney. Rostlauben, denen sogar ich als Nicht-Autofahrer mal wieder etwas abgewinnen kann. Ein alter Cadillac-Krankenwagen mit diesen Sirenen auf dem Dach ist zum Werkstattwagen umgebaut worden. Geil. Wie der Jaguar E in “Harold und Maude”, der zum Leichenwagen umgebaut ist. Es gibt Autos, die würde ich sogar kaufen.

Gangster-Caddy

Ein Chevy aus den 50ern - der Bruder von "Christine"

Ich kann die Sirenen förmlich hören...

Die Sonne scheint den ganzen Tag, sie wärmt auf dem Glenn-Highway, der ja doch auf einem Hochplateau entlangführt. Mittags fahre ich an eine Baustelle. An den wartenden Autos vorbei bis nach vorn. Ein Mädel steht mit ‘ner Fahne in der Hand und teilt mir mit, dass der “Headcar” unterwegs sei. Ich schaue offensichtlich so stutzig, dass sie mir gleich erklärt, dass ich die Baustelle nicht mit meinem Rad befahren dürfe und dass ich gleich abgeholt werden würde.

“Sorry???”

Da in Alaska Zeit und Raum unendlich vorhanden ist, erklärt sie mir, wie Baustellen dort funktionieren.

Diese Baustelle sei rund acht Kilometer lang. Der Winter habe den Straßenbelag aufplatzen lassen und das müsse jetzt repariert werden. OK. Verstanden.

Aus versicherungstechnischen Gründen müssen alle Verkehrsteilnehmer durch die Baustelle GEFÜHRT werden. Es fährt also ein Auto mit einem Fahrer – hier allerdings eine Fahrerin – den ganzen Tag in der Baustelle hin und her und bringt die Autoschlangen von einem Ende zum anderen. Und ich hätte Glück, dass dieses Auto ein Pickup sei und mein Fahrrad aufladen könne.

Da ist sie – diese amerikanische Besonderheit mit den Versicherungen. Man darf Katzen nicht zum Trocknen in die Mikrowelle stecken. Das muss in der Bedienungsanleitung stehen, sonst zahlt die Versicherung nicht, wenn’s jemand macht und hunderttausend Dollar Schadenersatz verlangt.

Egal. Einer in der Baustellenwarteschlange kommt nach vorn zu mir und fragt wer mich den sponsern würde. Ich sage, dass das meine Idee wäre, ich Werbung nicht mögen würde und insofern das einfach nur für mich täte. Unabhängig und frei – Werte, die den Amerikanern doch eigentlich sympathisch sein müssten. Wenn ich gesponsert wäre, müsste ich mich nach den Geldgebern richten und wäre nicht mehr frei, sage ich. Pause. “Just for yourself? Unbelievable!”

Nach einer knappen halben Stunde kommt der Baustellen-Pickup und eine Frau steigt aus. Ihre Kollegin hat sie schon per Funk über den “Stranger” mit dem Fahrrad informiert. Eine Frau. Hmm, na ja, sagen wir mal so: Sie behauptet von sich selbst, dass sie “tough” sei. Und selten habe ich einen größeren Einklang von Wort und Bild erlebt.

Die Ladefläche des Pickup ist ungefähr einsfünfzig hoch. Die Kante der Heckklappe liegt ungefähr bei einsachtzig. Die Heckklappe lässt sich nicht öffnen. “Don’t work!”. Ich beginne also schon mal, die vorderen Packtaschen abzuhängen.

“No, no – I’m tough!” lacht sie mir entgegen. Ich richte mich auf und sehe sie fragend an. “Let’s lift it!” fordert sie mich auf. “That’s sixty Kilos!” versuche ich einzuwenden. Aber da die Amis nur in Pound rechnen, ignoriert sie mich und lässt mich auf die Ladefläche klettern.

Es ist ja nicht so, dass man's nicht gesagt kriegt...

Was soll ich sagen – es folgt ein Bewegungsablauf, der mich an diese chinesischen Gewichtheberinnen bei Olympia 2008 erinnert. Und auch die Laute sind ähnlich. Jedenfalls stemmt sie das Interconti mit hinteren Gepäcktaschen, Zelt, Schlafsack, Isomatte, Schloss, Werkzeug, etc. über die nicht arbeitende Heckklappe auf die Ladefläche des Autos. Ich nehme mein Gefährt entgegen und denke an meinen Bandscheibenvorfall und meine Lendenwirbel. “That’s what I said. I’m tough!” Ihre Kollegin mit der Fahne lacht laut, ich klettere von der Ladefläche auf den Beifahrersitz und lasse mich von Mary durch die Baustelle chauffieren.

Mary ist mit Leib und Seele Baustellenführungsfahrzeugfahrerin. Ganz stolz erklärt sie mir die ganzen Maschinen, die da so arbeiten und winkt laufend ihren Kolleginnen und Kollegen zu. Das erinnert mich an die Straßenbahnfahrer in Hannover, die sich auch immer zuwinken. Egal wie oft am Tag sie sich sehen. Also ob ich jedesmal meinem Bürokollegen “Hallo” sage, wenn er oder ich mal aus dem Büro raus- oder reingehen. Hat wohl was von Ritual.

Frauen. Auf den großen Maschinen sitzen in der Regel Frauen. Zierliche Frauen – not tough. Sie seien eben weiter in USA mit der Frauenemanzipation lacht Mary, als ich mein Erstaunen erwähne. “And we’re tough!”. Das prägt sich mir langsam ein.

Mary zeigt mir ihre Lieblingsstelle in dieser Baustelle. Jedesmal fühlt sie sich ganz stolz, wenn sie hier vorbeikommt.

Letztes Jahr war hier noch ein Berg. Die Leute wären hier Schlitten gefahren, den Berg runter. Aber im Herbst haben ihre Kollegen den Berg in die Luft gesprengt, um die Straße durch zu bauen. Das sei ja doch wohl eine ingenieurstechnische Meisterleistung. So was könnten nur die Amerikaner.

Ich frage sie ob sie schon mal in Österreich oder der Schweiz gewesen wäre. Dort würde man Löcher in die Berge bohren und durchfahren. Das nenne man “Tunnel” bei uns und das Prinzip würde die Berge schonen. Und als ich noch versuche, zu erklären, dass – wenn die Berge alle weggesprengt wären – dann keiner mehr käme, weil die Berge weg wären und dann die Straßen und Parkplätze, die durch die Berge gebaut wurden, auch nicht mehr benötigt würden, weil ja keiner mehr käme, ist sie erst stutzig und dann – glaube ich – beleidigt.

Ich mache noch ein paar Komplimente und witzele rum, da ich daran denke, dass ich das Fahrrad ja wieder von der Ladefläche bringen muss und Mary dabei eine Schlüsselrolle übernehmen soll.

Straßen müssen gerade sein in Alaska!

Ich überlege ob ich den Tacho abmontiere – einfach nur fahren und genießen soll. Ohne Tempo, Zeit, Schnitt.

Heute abend gönne ich mir Luxus. Ich habe mich auf der Sheep Mountain Lodge einquartiert. Bis 22 Uhr bin ich gefahren, langsam wurde mir kalt. Es ist ja auch noch hell um diese Zeit und wenn die Beine und der Hintern mitmachen, denke ich noch nicht an die Übernachtung. Ich glaube, es ist gut, wenn ich mir eine zeitliche Obergrenze setze – sechs Stunden Netto-Fahrzeit.  Also lasse ich den Tacho doch dran, drehe ihn nur um. Gute Idee.

Als ich in der Lodge ankomme, frage ich nach dem Preis. “Cabins” haben sie draußen angeschlagen – jetzt um diese Jahreszeit sollten sie eigentlich froh sein, wenn überhaupt jemand kommt und übernachtet. In der Betriebswirtschaftslehre ist das ein klassisches Beispiel für die Deckungsbeitragsrechnung:

Weite. Hin und wieder mal ein Berg - Alaska.

Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Hotel und ein Zimmer zu 100 Euro die Nacht steht frei. Um 21 Uhr kommt ein Gast und bietet 50 Euro. Vermieten Sie oder weisen Sie ihn ab? Klar sind das 50 Euro, die ich einnehme, ohne dass die Kosten signifikant ansteigen – also fast reiner Deckungsbeitrag für die fixen Kosten, die ich sowieso habe. Ich mache eine Ausnahme, vor allem wenn er ein Reiseradler ist und den Preis nicht weitererzählt.

König mit Krone - der warme Berg

160 Dollar wollen sie für die Cabin. Als imaginärer Hotelbesitzer und praktischer Betriebswirt biete ich 80.

Schade – entweder hat der Chef hier Betriebswirtschaftslehre nicht studiert oder die Deckungsbeitragsrechnung nicht kapiert oder er ist kein Reiseradler. Jedenfalls verlangt er 160 US-Dollar für eine Nacht in einer Cabin und basta.

Seine tschechische Assistentin schlägt vor, dass ich ein Bett in einem “Dorm” nehmen könnte – das sind Mehrbett-Zimmer, in mit Etagenbetten und gemeinsamen Sanitäranlagen. Und ich schlage vor, dass ich dort in meinem Schlafsack schlafen und somit den Aufwand niedrig halten würde. Außerdem würde ich gerne gut zu Abend essen und morgen früh auch ein Frühstück bestellen. Auf 60 Dollar einigen wir uns und da sowieso keine weiteren Gäste da sind, habe ich ein riesiges Einzelzimmer mit einer warmen Dusche.

Nach dem Genuss dieses Luxus und vor dem Abendessen gehe ich noch ein wenig auf die Straße zum Fotografieren. Der Berg hier über der Lodge ist ein Königsberg. Er ist als einziger schneefrei und hat eine Krone auf.

Es sei ein nicht ausgebrochener Vulkan, erklärt mir die Tschechin – daher auch die verschiedenen Farben des Gesteins. Und dadurch, dass der Berg warm sei, erwärme er auch die Luft um ihn rum, welche aufsteigt und in den kälteren Schichten kondensiert. Somit hat er bei Windstille und wolkenfreiem Himmel immer eine Krone auf.

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Ich habe selten so gut gegessen! Ich vergegenwärtige mir nochmal, dass ich im Land der kulinarischen Ignoranz bin und genieße um so mehr den alaskaischen Wildlachs und das perfekt dazu gebratene Gemüse. Möhren, Paprika, Zwiebeln, Sellerie – alles in der gleichen Biss-Konsistenz. Das zeugt von differenziertem Kochen. Das Lachssteak ist einfach nur mit Salz und Pfeffer gebraten. Englisch. Außen kross und innen zartrosa mit Anleihen an das Orangene. An was mich dieses organische, gesunde Farbempfinden erinnert, lasse ich mal offen. Jedenfalls hat dieses Lachs-Steak mit einem norwegischen Tiefkühl-Aqua-Kultur-Lachs-Steak so viel gemein wie ein Arabisches Vollblut mit einem Brabanter Rotschimmel.

Ich erzähle das der hübschen Tschechin, zehn Minuten später sitzt der Chefkoch an meinem Tisch. Niemand habe je so konstruktiv sein Essen gelobt, sagt er. Alle kämen nur rein, würden Lachssteaks (wenn überhaupt) reinschlingen und ziemlich schleunig wieder verschwinden. Am schlimmsten findet er die Fragen nach dem Essen “to go” – wahrscheinlich könne er sogar ein lukratives Drive-Thru eröffnen.

So trinken wir gemeinsam noch eine Flasche Zinfandel aus Kalifornien und ich lerne einiges über die die Dall-Schafe in Alaska.

Und draußen streichelt die Sonne mit ihrem warmen Abendlicht die Berge…

Abendstimmung an der Sheep Mountain Lodge / Glenn Highway

20. Mai 2009

Anchorage – Palmer – Chickaloon: 135 km, über sieben Stunden Nettofahrzeit, Schnitt 18 km/h.

Tja – nun fahre ich doch direkt über den Glenn Highway in Richtung Tok. Der Denali muss warten, bis ich ihn besteige. Die Leute im Hostel sagen, dass der Denali Highway noch verschneit sei. Und mit meinem Sechzig-Kilo-Gefährt ist das kein Vergnügen, durch irgendwelche Schneewehen zu schieben.

Aus Anchorage mit dem Rad rausfahren ist schon mal das erste Abenteuer. Einen Radweg gibt es – ja. Aber der führt direkt neben der Autobahn lang und die ist extrem laut. Außerdem muss man diesen Radweg auch erstmal finden! Nach dem Ortsausgang Anchorage bin ich erstmal rund drei Kilometer mit den Autos, Trucks und Motorrädern auf dem sechsspurigen Glenn-Highway langgefahren.

Irgendwann wird’s mir zu mulmig und ich fahre eine Einfahrt zum Highway rückwärts hoch, um an einer Kaserne nach dem prognostizierten Radweg zu fragen.

Amis fahren nicht mit dem Rad. Jedenfalls nicht hier. Lance Armstrong kommt aus Texas und nicht aus Alaska. Hier gäbe es keinen Radweg sagen sie. Aber mit etwas Orientierungssinn und nach dem Treffen mit einem Rennradfahrer finde ich den Radweg nach Eagle River und Chugiak.

Insgesamt muss ich jedoch knapp 40 km am (gefühlt) meistbefahrenen Highway Alaskas entlangfahren.

Auf dem Old Glenn Highway

Nach einer zu langen Weile biege ich auf den Old Glenn Hwy ab und ab da ist es ruhiger. Und schöner!

Die Amerikaner haben ja ein Motto: “There’s so much!”

So viel Lanschaft, so viel Platz. Und wenn jemand nicht weiß wohin mit dem Müll, dann eben in die Landschaft. Ich halte auf einer Kuppe des Old Glenn an, um nochmal den Denali zu bestaunen, der von hier in der Ferne zu sehen war. Direkt unterhalb meines Standplatzes sehe ich jedoch, wie man hier Autos entsorgt: Einfach hinstellen. Reste von Motoröl, Benzin, Batteriesäure, bleihaltige Farben – alles wird ins Grundwasser gespült. There’s so much – tomorrow never knows. In Alaska gibt es wohl kein Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz.

F*cking Cars

19. Mai 2009

Es beginnt im November 2008

Ich weiß, dass es ein harter Kampf wird.

Soziale Verantwortung in einer Wachstumsgesellschaft heißt, einen einmal erreichten Lebensstandard mindestens halten zu müssen. Vor allem wenn es nicht der eigene ist. It’s the law!

Freiwillig weniger arbeiten und weniger verdienen? It’s not usual!

Und doch: Ich werde jetzt meinen Traum leben, mein Leben träumen. Ich werde den ganzen Scheiß der letzten Jahre hinter mir lassen. Ich werde mir einen Erinnerungs- und Gefühls-Fundus in Kopf und Herz aufbauen, einen Reichtum, dessen Dividenden ich mir jederzeit auszahlen lassen kann. So was wie den Zieldurchlauf meines ersten Ironman-Rennens in Österreich. Das war Glück pur! Wenn ich abends meine Tagesration Glück noch nicht gefunden habe, denke ich an solche Momente.

Also: Es wird gehen. Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Mach was Dir Spaß macht, der Rest findet sich schon. Gestalte Dein Leben und in Deinem Leben – dafür ist es doch da.

aus Wikipedia

Carretera Panamericana. Seit zwei Jahren nun lerne ich schon Spanisch. Carretera Panamericana con bicicleta. 25.000 Kilometer von Nord nach Süd. Nur in der Mitte ist ein Loch – das Darién Gap. Ein Loch mit einer hohen Biodiversität: Urwald.

“Into the Wild” hat mich inspiriert. Der Junge hat’s richtig gemacht. Ein wenig zu konsequent vielleicht. Ich werde auch in Alaska beginnen, aber nicht da bleiben – auch wenn es eine Option ist, die ich einkalkulieren muss.

Alaska – Mythos, Inspiration und Herausforderung.

Knapp siebenhunderttausend Einwohner verteilen sich auf eine Fläche, die knapp fünfmal so groß ist wie Deutschland. Und von diesen Einwohnern wohnen mehr als die Hälfte in den zehn größten Städten. In Alaska gibt es nichts außer Öl und Landschaft. Und im Sommer Mücken. Jetzt herrschen in Fairbanks Minus zwanzig Grad – tagsüber! Im Sommer gibt es ein Zeitfenster von Mai bis September, in dem die durchschnittliche Temperatur im positiven Bereich liegt. Durchschnitt heißt Statistik. Statistik heißt “wahrscheinlich”. Es ist also ebenfalls “wahrscheinlich”, nur eben weniger, dass es im Mai/Juni auch mal ziemlich kalt sein kann in Alaska.

Egal – ich muss mich mit der Wahl meines Zeitfensters zwischen Kälte und Mücken entscheiden. Gegen Kälte kann ich mich schützen, gegen Mücken kaum. Die Viecher nagen bei mir an der Psyche. Wenn ich von Leuten höre, die ihren Urlaub in Skandinavien oder Mecklenburg oder an der Donau wegen der kleinen Blutsauger abbrechen, kann ich das nachempfinden. Aber in der Kälte Rad fahren – das mache ich doch gerne. Wieviele Winterkilometer bin ich schon im Deister gefahren, teilweise sogar durch den Schnee schiebend. So schlimm wird’s schon nicht werden…

Also: Alaska im Frühjahr.

Im Juli beginnen ja auch die Amis, in den Urlaub zu fahren und bevölkern die Highways mit ihren Recreational Vehicles, den Wohnmobilen, die hierzulande wahrscheinlich eine Omnibus-Zulassung benötigen.

Und wenn ich dann schon mal da bin, nehme ich gleich auch Kanada mit. Damit dürfte dann der erste Teil der Panam geschafft sein. Auf der Karte sind das von Anchorage nach Vancouver rund viereinhalbtausend Kilometer. Sechs Wochen Urlaub – viereinhalbtausend K’s – das ist auch für einen Langstreckentriathleten eine Hausnummer. In den einschlägigen Foren habe ich gelesen, dass diese Entfernungen mit dem Reiserad nicht in “Kilo”- sondern in “Mega”-Metern gemessen werden. Danach wären das vierkommafünf Megameter. Die einen schaffen ständig neue Bäbbelchen für Insider auf ihren Klamotten, damit sie “in” oder “hip” sind und es ja auch jeder merkt, die anderen schaffen neue Maßeinheiten, die außerhalb der Gilde für Achselzucken sorgen, auch um “in” zu sein.

In solchen Momenten frage ich mich, was ich eigentlich bin. Ich mag keine Bäbbelchen auf meinen Klamotten, ich mag weiterhin “Kilometer” sagen, auch wenn es die beiden Silben im Wort “tausend” kostet, aber mir trotzdem ein Hilleberg-Zelt mit Bäbbelchen kaufen, weil ich diesen Leuten einfach vertraue. Vielleicht schaffe ich es ja auf dieser Reise, herauszufinden, was ich bin. Oder ob das überhaupt wichtig ist.

Allein schon dafür brauche ich mindestens sechs Wochen. Und für die viereinhalbtausend K’s auch. Und für Alaska und Kanada auch.

Von Deutschland aus kann ich entweder nach Anchorage oder nach Fairbanks fliegen. Fairbanks wird donnerstags, Anchorage dienstags angeflogen. Bei nur sechs Wochen Urlaub muss ich mit jedem Tag disponieren. Von Vancouver aus kann ich samstags zurückfliegen, sechseinhalb Wochen für Fairbanks kriege ich nicht genehmigt, fünf Wochen von Fairbanks aus sind mir zu wenig, also bleiben fünfeinhalb Wochen von Anchorage aus.

Zusammengefasst ergibt das folgende Entscheidung: Mitte Mai von Frankfurt nach Anchorage, Ende Juni von Vancouver aus wieder zurück. Urlaub beantragen vom 18.5.2009 bis zum 26.6.2009. Ich kenne jetzt schon die Zweifel und Ausreden meines Vorgesetzten, die er sich einfallen lässt, um mir ein schlechtes Gewissen zu verursachen und die Wichtigkeit seiner Abteilung zu betonen und dass die doch immer funktionieren müsse und so weiter.

Den Jungs wird es egal sein, deren Mutter ist mir egal, das Lauftraining werde ich aufteilen. Es gibt Entscheidungen in diesem Leben, die einfach nur darauf warten, getroffen zu werden. Es gibt Wege in meinem Leben, die ich BEstimmen und nicht ABstimmen muss. Und dieser Weg gehört dazu.

Von Anchorage nach Vancouver führen zwar nicht so viele Wege, aber es reicht für eine weitere weitreichende Entscheidung. Nehme ich den Denali-Nationalpark mit? Fahre ich über den Denali-Highway? Oder den kürzesten Weg über den Glenn- und Alaska-Highway? Von Anchorage nach Fairbanks sind es gut 600 km, mit Denali kommen nochmal rund 250 dazu. Bis zur kanadischen Grenze würden dann rund 1.350 km auf dem Tacho stehen. Und dann ist der kürzeste Weg nach Vancouver über den Cassiar Highway und den 99 South immer noch rund 2.900 km weit. Aber Banff und Jasper will ich auch fahren. Und dann über den Kettle Valley Railway Richtung Westen nach Vancouver. Also von der kanadischen Grenze im Norden nach Vancouver wären das rund 4.000 km. Undenkbar. Mein Rad wird voll beladen 60 Kilo wiegen und nebenbei käme ich auf gut 30.000 Höhenmeter.

OK – Jetzt mach ich mich nicht verrückt und fahre einfach mal los. In Nordamerika gibt es noch die Greyhound-Busse und Eisenbahnen fahren da auch. Außerdem fahren dort alle Leute Pick-Ups und einer wird mich schon mitnehmen, wenn es nötig ist.

Dezember 2008

aus Wikipedia

“Ich werde nächstes Jahr im Frühjahr sechs Wochen nicht da sein und es wird mein Resturlaub, meine Überstunden und ein Großteil meines Jahresurlaubs drauf gehen. Und im Herbst sind zwei Wochen mit den Jungs eingeplant.”

Erstaunen im Umfeld.

Immer wieder abstimmen, immer wieder Kompromisse schließen – das heißt: Pläne weichspülen. Das was den Kick bringt, aussondern, an die Gemeinschaft anpassen. Das ist nicht das was ich suche.

Ich weiß was ich kann, was ich mir zutrauen kann und was ich bereit bin, aufzugeben.

Was heißt schon aufgeben?

Sechs Wochen zelten – was gebe ich auf? Sechs Wochen Leben in der Natur – was gebe ich auf? Sechs Wochen Radfahren – was gebe ich auf? Sechs Wochen Fotografieren – was gebe ich auf?

Ich ahne, was da als Konsequenz auf mich zukommt…

Irgendwann aber muss ich doch mal anfangen – dafür habe ich mir dieses Monstrum von Fahrrad gekauft, dafür lerne ich Spanisch: Die Panamericana – Traum vieler Fahrrad- und Motorrad-Fahrer. Ich will im Norden anfangen, mich langsam an die fremden Kulturen gewöhnen. Und ich will mit dem Fahrrad fahren. Reisen mit dem Fahrrad ist für mich die entspannteste Art, Natur, Wetter, Menschen, Tiere und Landschaften zu erleben.

19. Mai 2009: Endlich…

Frankfurt - am Main

Frankfurt - Eiserner Steg

Nachdem ich gestern abend in Frankfurt nochmal am Main langspazierte und heute morgen dann vom Rhein-Main-Flughafen abflog, bin ich schon mal gut in Anchorage gelandet. Fahrrad, Gepäck, Zelt, etc. – alles heile. Mein Mobiltelefon funktioniert nicht – trotz Triband. Egal – es dauert ja sowieso mindestens einen halben Tag, bis jemand bei mir wäre. Und außerdem habe ich noch einen weiteren unnützen Gegenstand, mit dem ich im Notfall nach den Bären werfen könnte.

Das was ich an Weite in der Landschaft aus dem Flieger raus gesehen habe, ist einfach gewaltig. Wir hatten Super-Wetter, konnten Gletscher sehen, im Meer und zwischen den Bergen. Das ist dann schon ein anderes Kaliber als in den Alpen. Schneebedeckte Tundra und Berge – soweit das Auge reicht.

Da wir über Whithorse in Kanada flogen, habe ich auch schon mal den Alaska-Highway von oben inspizieren können. Irgendwie ist da rechts und links noch ziemlich viel Schnee und ich weiß nicht, ob das in den nächsten Tagen wegtaut… Jedenfalls ist das hier nix mit 20 Grad und so. Aber trotz der Kälte kann ich es gut aushalten. Der Weg vom Flughafen zum Hostel, in dem ich heute noch übernachten werde, war angenehm – nur der Wind ist noch etwas kühl.

Der Hinflug war auch deshalb etwas ganz besonderes, da wir den Denali sehen konnten. Der zeigt sich nämlich normalerweise nur ganz selten. Das ist schon ein gewaltiger Brocken – und er steht fast allein in einer eher flachen Landschaft. Im Flieger saßen einige Leute, die ihn besteigen wollen. Das hebe ich mir aber noch etwas auf…

Die Leute hier in Anchorage sagen, dass ich am Wonderlake im Denali-Nationalpark auch jetzt schon ein richtig gutes Moskitonetz bräuchte – meins sei fast schon zu weitmaschig. Jedenfalls sei das “die Hölle”. Hmm – nun überlege ich mir natürlich, ob ich meine geplante Route nicht noch ändere. Zumal der Park erst am 6. Juni öffnet und da oben noch mehr Schnee liegt.

Na ja – mal sehen, ich entscheide mich morgen, wenn ich da oben bin. Auf jeden Fall fahre ich den Denali-Hwy – der soll zum Schönsten gehören, was Alaska zu bieten hat.

Flug über Alaska - wo sind da die Radwege?

Irgendwie halten die mich für einen “Crazy German”, bei der Ankunft auf dem Flughafen haben sogar die sonst so grimmig schauenden Zollbeamten gelächelt. Einer von denen hat sogar meine Reifen mit einer Desinfektionslösung gereinigt, da der Dreck aus Europa runter sollte – wegen irgendwelcher Infektionsgefahren. Bei uns in Europa sind die Straßen und Wege offensichtlich mit SARS-, Vogel- und Schweinegrippe-Erregern nur so geteert. Ich wundere mich immer wieder, wie ein Land, das das freieste der Erde sein will, einen solchen Verfolgungswahn entwickeln konnte und ihn offensichtlich hegt und pflegt. Trotzdem sind die Menschen hier sehr nett und aufgeschlossen.

Nun denn – morgen geht’s mit dem Rad los und dann melde ich mich erst in der nächsten Stadt wieder – keine Ahnung, welche das sein wird und wann ich da ankomme. Zumal “Stadt” hier in Alaska auch jede Fünfhundert-Seelen-Gemeinde sein kann.

Also: Jetzt soll’s das erstmal sein. Ich gehe jetzt zum Wal-Mart und kaufe mir Trockenfutter, frisches Obst, Müsli und Schokolade für drei bis vier Tage. Die Leute hier im Hostel sagten, dass ich bis Whitehorse nicht mehr so eine große Auswahl haben werde – und das sind noch über 1.000 Kilometer.