Am Morgen treffe ich auf einen wunderbaren See inmitten einer wunderbaren Landschaft. Da es so unerwartet ist, hier in Andalusien ein so sattes Grün und Blau zu sehen, genieße ich den Moment noch etwas.
In Valle de Abdallajiz führe ich die deutsche Mett-Kultur ein. An einem Marktstand verlange ich “carne crudo” – Mett. Meine Frage, ob das Fleisch gesalzen sei, antwortet die Verkäuferin: “¡Claro que NO! – es crudo y fresco.” – roh und frisch also. Ich frage, ob sie mir das Fleisch salzen könne und starre in ein paar fragende und zweifelnde Augen. Ich will’s halt auf’s Brot schmieren und essen. “¡Es CRUDO!” schlägt es mir entgegen – diesmal aus einem Gesicht voller Entsetzen. Ich erkläre, dass wir in Deutschland das gern und oft essen – insbesondere mit Zwiebeln und Gurke zu einem herzhaften Bier.
Die Frau lacht, wirft eine Prise Salz in die Mett-Tüte und zieht an der Kasse ab.
Auf der Bank vor dem Marktstand sitzend und mir mein Brot schmierend kriege ich mit, wie sie das gleich ihrer Nachbarin und dann noch der nächsten Kundin erzählt. So entstehen Kulturen.
Von El Chorro nach Alora verschmilzt mein Radfahren mit einem andächtigen Erfühlen des Moments. Das ist einer der schönsten Flecken meiner Erde. Ich verneige mich vor der Schönheit der Natur.
Objektiv ist das wahrscheinlich gar nicht greifbar und selbst wenn ich einer dieser großen Erzähler und Naturbeschreiber wäre: Ich wüsste nicht, wie ich diesen Verschmelzungszustand von Herz und Natur beschreiben sollte.
Klar gibt es auch in anderen Gegenden solche Felsen. Aber hier ist es die Summe aus deren Gewaltigkeit und Abgeschiedenheit, dieser Unmittelbarkeit, mit der mich die Situation erfasst und mein Alleinsein hier und jetzt.
In solchen Momenten denke ich an den Tramp. Den von Charlie Chaplin. Und was ich mit ihm gemeinsam habe. Ich bin angekommen – als Reisender, der nie ankommt.
Es muss so befreiend sein, keine Tagesetappen mehr zu haben, nicht zu einem Zeitpunkt irgendwo sein zu müssen, keine Uhr zu haben, keine Kilometervorgaben, keinen Plan. Was muss ich gefrustet sein von solchen Vorgaben. Ist mein Leben denn nur dadurch bestimmt? Von Integrationsvorgaben des sozialen Systems? Von Verantwortung für andere?
Was wenn ich jetzt aussteige? Habe ich dann umsonst gearbeitet? Was bleibt mir jetzt, was später? Und schon bin ich wieder gefangen in mir selbst. Der Sammler gibt doch nix ab – ich will mich nicht trennen von meinen Rentenpunkten, meiner ethischen Unversehrtheit, meinen Ersparnissen. Denn das wäre alles weg, wenn ich mich jetzt entschiede, vogelfrei zu sein. Und vogelfrei sein heißt nicht, zu schmarotzen. Mich ins soziale Netz zu legen und auf die Leistungen der Solidargemeinschaft angewiesen zu sein. Mir würde es ja schon reichen, wenn ich das was mir jetzt gehört, einfach nur behalten könnte.
Die Notwendigkeiten des Hier und Jetzt holen mich ein: Bevor ich aussteige, muss ich erstmal einsteigen. In die nächste Bahn. Wind und Berge saugen!
Von Antequera fahre ich völlig fertig mit dem Zug nach Granada. Soll eine tolle Stadt sein. Außerdem kann ich dann noch ein wenig abkürzen, um Anke in Valencia pünktlich abholen zu können.
Eigentlich will ich beim Zugfahren meine Ruhe. Ich schaue gern aus dem Fenster und der Landschaft beim Vorbeiziehen zu. Vor allem, wenn es eine fremde ist.
Aber Laura spricht mich an. Eine junge Spanierin, die in Edinburgh lebt und arbeitet. Für eine NGO – eine Non Governmental Organisation, so wie Greenpeace oder die WHO. Diese NGO beutet sie aber auch bloß aus, sagt sie. So seien die Regeln.
Regeln – wir unterhalten uns darüber, wer die Regeln eigentlich macht. Denn darum geht’s in jedem Sozio-System. Wer macht die Regeln und wer hält sich dran. Wer die Regeln macht, hat die Macht. Die Macht, die Regeln macht. Das ist in der Politik so, in den Unternehmen, in der Kirche, in Banden, Familien, überall.
It’s all about rules!
Ich als Individuum will nach meinen eigenen Regeln leben. Die sind schon kompatibel mit denen des Systems. Sage ich. Alle wollen nach ihren eigenen Regeln leben. Und dann diese eigenen den anderen aufdrücken. Und da beginnt das Problem. Wer ist zu verurteilen: Die, die anderen ihre Regeln aufdrücken oder die die sie unreflektiert befolgen oder die, die sie regelmäßig brechen? Wer urteilt? Nach welchen Regeln?
Was für mich richtig ist, ist nicht automatisch auch für alle anderen richtig. Nicht mal für meine eigenen Kinder. Von denen erwarte ich ja sogar, dass sie GEGEN meine Regeln sind.
Geistiges Erbe der 68er Generation.
Zwischen Laura und mir entwickelt sich ein ganz spannendes Gespräch. Schön, dass sie auch englisch versteht – so entsteht durch ihr spanisch und mein englisch ein lehrreiches Kauderwelsch.
Sie will nach Madrid zu ihren Eltern: Semana Santa – heilige Woche. Sie macht das, was das Leben lebenswert macht: Sie klettert (gut sogar – jedenfalls lassen ihre Statur, ihre Hand und die Unterarme auf ausgedehnte Praxis schließen), jobbt, reist. Mit dem Rad. Wir verabreden, dass wir vielleicht mal zusammen reisen. Laura gibt mir ihre E-Mail-Adresse, ich steige aus und sie fährt weiter.
Normalerweise dürfte ich solche Verabredungen gar nicht akzeptieren oder selber ansprechen. Man trifft sich, findet sich sympathisch, quatscht, verabredet sich und hört sich nie wieder. Auf Reisen. Vielleicht schreibe ich ihr doch mal.
Ich muss zugeben, dass mich Granada echt fasziniert. Das ist eine alte Stadt mit jungen Menschen. Der Campus der Universität, über den ich abends gehe, um die Stadt zu erkunden, ist ein einziges Happening. Einzelne, Paare, Gruppen sitzen, stehen, spielen zusammen – so stelle ich mir einen Campus als soziales Zentrum für Studenten vor. Und überall Sport. Inliner und Jogger umkurven mich, rechts und links spielen hunderte von jungen Leuten Fußball. Jetzt, wo es dunkel ist, sogar mit Flutlicht. Das milde Klima lädt aber auch geradezu dazu ein.
Das ist ein Flair hier, wie es eins in Hannover oder Hamburg oder Berlin nie geben kann. Keine Ahnung warum. Ich würde gern nochmal mit den Jungs hierher, um ihnen dieses Fenster zu öffnen. Bevor sie sich in Hildesheim oder Clausthal-Zellerfeld einschreiben.
Ich denke nochmal an die Regeln, der Campus der Universität von Granada inspiriert.
In der Jugendherberge gibt es freie Internet-Plätze – ich lade einige meiner Bilder hoch, stelle sie bei Facebook ein und schicke einigen Freunden eine Mail mit den ersten Reise-Eindrücken.
Dann gehe ich schlafen.
Morgens wache ich vom Lärm in der Jugi auf. Das Frühstück kann ich beim besten Willen nicht als solches bezeichnen. Ich breche zum Sightseeing in Granada auf.
Den Campus der Uni konnte ich gestern abend schon erfühlen. Heute sind die kulturellen Klassiker dran: Kathedrale und Markt.
Klerus und Fußvolk haben sich hier angefreundet: Die Bürgerlichen haben zwar nicht so viele Ornamente wie die Kathedrale in der direkten Nachbarschaft. Aber dafür haben sie Kreativität und Farbe.
Die Plätze und Märkte laden zum Verweilen ein – ich kaufe mir meinen ccl & c und mal wieder frische Erdbeeren vom Feld.
Am Nachmittag setze ich mich wieder in den Zug und fahre nach Cazorla – von dort soll mich meine Reise weiter durch die Berge führen. Aus Granada raus führt nur eine viel befahrene Straße – und die will ich mir nicht antun.
Der Bahnhof von Cazorla ist leer. Menschenleer. Einsam. Die Szene erinnert mich an den Beginn von “Spiel mir das Lied vom Tod.”
Ich fahre über das kleine Zufahrtssträßchen in die Berge und genieße ein ausgedehntes Mohnfeld, bevor ich mir einen schönen Zeltplatz suche und wieder zurück bin in der Natur.