Category Archives: 2012 Kuba

9./10. April 2012 und Epilog – Der Sinn des Lebens in Melonen

Zum Frühstück gibt’s Melonen. Aus der Frage, ob eigentlich die Kerne im Fruchtfleisch sind oder das Fruchtfleisch um die Kerne, entwickelt sich eine Diskussion über den Sinn des Lebens.

Das Fruchtfleisch ist um die Kerne herum konstruiert, damit Menschen und andere Tiere Melonen fressen. Mit dem Kot werden die Kerne mit ausgeschieden. Unter günstigen Bedingungen fallen die Kerne auf fruchtbare Erde. Unter noch günstigeren Bedingungen entwickelt sich eine Pflanze und damit neues Leben. Ohne Fruchtfleisch würde somit keine Vermehrung stattfinden. Na gut, ohne Kerne auch nicht. Themenspeicher: Wie vermehren sich eigentlich kernlose Weintrauben?

Naja, und was hat das jetzt mit dem Sinn des Lebens zu tun?

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8. April 2012 – Lazy Day

Heute ist Ruhetag. Ausschlafen, Bars besuchen, Mojitos trinken, Musik hören, essen, essen, essen.

Während Leo versucht, einen ihm gefallenden Ersatz für seine geklaute kurze Hose zu finden, setze ich mich auf irgendeine Bank auf irgendeinem Platz und beobachte einfach nur die Leute. Es ist Siesta-Zeit. Hier schlafen die Leute auch schon mal ein. Auf der Bank. Wenn sie es dann zulässt und nicht völlig kaputt ist. Ein junges Päärchen mit Kind und Oma setzt sich mir gegenüber. Die Typen sind echt cool. Grellblaue Nike-Turnschuhe mit Zehnzentimeter-Hacken. Sowas habe ich selbst in Deutschland noch nicht gesehen.

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7. April 2012 – Teamwork und Provokationen am Malecon

Na ja, das Frühstück bei Ricardo war schon besser. Wenn das Obst aus dem Kühlschrank kommt, braune Flecken hat und säuerlich schmeckt, lass ich’s liegen. Nochmal Magenprobleme? Da haben wir beide keine Lust drauf.

Heute wollen wir mal wieder radeln. Eine größere Tour im Osten Havannas: Erst durch die Berge nach Jaruco, dann an der einzigen elektrifizierten Eisenbahnstrecke entlang bis Santa Cruz del Norte und von dort an der Küste zurück.

Die ersten 30 Kilometer sind laut und stinkig. Havanna eben.

Dann wird es allerdings ruhig und schön. Ohne Gepäck rollt es sich die ersten drei Stunden sogar gegen den Wind sportlich locker mit einem guten 20er Schnitt. Dann gönnen wir uns eine Pause mit Pan/Tortilla und Refrescos. Richtung Norden können wir noch etwas zulegen: “Nur” noch Seitenwind.

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6. April 2012 – La Habana Vieja y El Mojito Rico

Typisch Kuba: Eigentlich wollten wir heute eine Radtour machen aber wir gaben unsere Wäsche gestern Abend zum Waschen ab und wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Tochter der Frau, die die Wäsche waschen sollte, krank geworden und da muss die Mutter eben auf die Enkelin aufpassen. Oder so ähnlich. Ist ja auch egal, wir überlegen uns halt Alternativen: ¡No es fácil!

Familie ist hier sowieso ein wichtiges Thema. Ohne Familie funktioniert hier “alt werden” nicht. Das haben wir jetzt schon häufiger gehört. Es hilft jeder jedem.

Dass wir nicht radeln können, nehmen wir locker und schieben noch einen Kulturtag ein. La Habana Vieja ist dran, nach dem Valle de Viñales das zweite UNESCO-Weltkulturerbe unserer Kuba-Reise.

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4. April 2012 – Richtungswechsel und ein paar Fragen

“¡Hola Señor! Son seis y quince.” Viertel nach sechs… Oh no! Lennart sagt, sie hätten uns bis sieben gegeben und schläft nochmal ein. Es ist stockdunkel draußen. Ich bleibe auch noch etwas liegen, weiß aber, dass wir in spätestens zehn Minuten wieder angesprochen werden.

Langsam dämmert es. Eigentlich müsste ich jetzt mit der Kamera raus. Rotes Sonnenaufgangslicht auf roter kubanischer Erde. Aber ich kann (und will) mich nicht an einen erfolgversprechenden Standort erinnern, für den es sich lohnen würde, genau jetzt aus dem Schlafsack raus zu krabbeln.

Gegen halb sieben stehe ich auf, wasche mich und wecke Leo. Ruén, der erste Landarbeiter, leistet mir beim Packen Gesellschaft. Passiert ja nicht so häufig, dass Extranjeros, Fremde mit einer fremden Sprache, zu Besuch sind. Der Dialekt der Campesinos ist für uns nur sehr schwer zu verstehen. Und die Leute können offensichtlich auch kein hochspanisch – wahrscheinlich ähnlich wie bei uns im sächsischen Steinigtwolmsdorf, bayerischen Obermeiselstein oder friesischen Westeraccumersiel, wo die Leute sogar noch kokettieren: Wir können alles – außer hochdeutsch.

Aber wir verstehen uns dennoch – irgendwie.

Die Sonne ist schnell unterwegs – um sieben ist es hell und wir sind abfahrbereit. So früh waren wir bisher noch nie dran.

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3. April 2012 – Rote Erde

Leo schläft wie ein Stein, mich killen die Mücken in diesem Zimmer. Sprühe mir den Kopf mit Antimückenspray ein und decke mich bis zum Hals zu. Dann bin auch ich bis halbneun am nächsten Morgen Richtung Nirvana unterwegs.

Unser Frühstück ist gut. Wir tasten uns vorsichtig mit trockenem Brot voran. Das zweite Stück mit etwas Marmelade. Dazu ganz besonders vorsichtig frischen Ananassaft. Hilft ja nix: Wir brauchen Zucker und Mineralien.

Die beiden alten Leutchen hätten uns gerne noch etwas länger hier behalten, uns kommt das Casa allerdings auf den zweiten Blick etwas “spanisch” vor: Zimmer erst ab 20 Uhr frei, harte Spirituosen im Kühlschrank, Bilder mit spärlich bekleideten jungen und – zugegebenermaßen – recht hübschen Frauen an der Wand und Kondome zum Mitnehmen im Badezimmer.

Na ja, wo sollen sie denn auch hin, die jungen Kubanerinnen und Kubaner – das Leben ist ziemlich eng und öffentlich hier. Da wird eben gerne mal ein Rückzugszimmer für ein bis drei Stunden – je nach Kreativität der Aktiven – gemietet.

Unser Etappenziel für heute ist der Salto de Soroa – ein berühmter Wasserfall hier in der Gegend. Den erreichen wir gegen Mittag.

Ein Orchideengarten ist ausgewiesen – ziemlich viele seltene Blumen sollen dort zu sehen sein. Aber in unserem Zustand bleibt unser Interesse an der Paradiesvogelorchidee oder der Flor de San Pedro eher ungeweckt. Ein kleiner Spaziergang tut jedoch ganz gut. Wir parken unsere Fahrräder auf dem offiziellen Parkplatz der Villa Soroa und gehen zum Mirador, der auf etwas über 300 Meter liegt. Die Aussicht Richtung Süden in die fruchtbare Ebene Kubas ist spannend – wir werden nun die Berge hinter uns lassen und flach in Richtung Osten fahren. Durch Felder und Plantagen.

Auf dem Rückweg schauen wir noch beim Wasserfall vorbei, entdecken ein paar deutsche Touris mit Bierbüchsen, dicken Bäuchen und Gegröle und gehen schnell und unerkannt wieder zum Parkplatz. Wir finden dort was wir am nötigsten brauchen: Bänke im Schatten. Rund eine Stunde Siesta wirkt Wunder. Diesen Brauch sollten wir mit nach Deutschland nehmen.

Nun wieder einigermaßen wach und gut in Form fahren wir die rund 35 Kilometer nach Artemisa in rund eineinhalb Stunden. Die Carretera Central ist ein 1.250 Kilometer langes kulturelles Zentrum. Wir überholen Fußgänger, Radfahrer, Ochsenkarren, Treckergespanne – uns überholen Autos, Mopeds, Laster. Wir grüßen, werden gegrüßt, alles ziemlich locker hier.

In Artemisa genießen wir erstmal wieder ein Refresco – klar: An der Carretera. Wir fragen schon nicht mehr, was drin ist, in den Gläsern – hauptsache kalt, gezuckert, flüssig. Erfrischend eben. Obwohl Artemisa eine für Kuba recht große Stadt und die hiesige Provinzhauptstadt ist, finden wir kein Casa Particular. Die Touristen verirren sich offensichtlich nicht hierher. Was auch kein Wunder ist, da wir schon seit der Abfahrt aus Soroa im Wesentlichen durch landwirtschaftlich genutzte Regionen fahren. Tabak, Reis, Zucker, Bananen, Kochbananen.

Wir wollen jetzt gerne unser Zelt aufbauen und fahren immer mal in irgendwelche kleine Sträßchen oder Feldwege, um einen geeigneten Zeltplatz zu finden. Aber: Jedesmal Fehlanzeige. Entweder ist der Platz für alle einsehbar oder geeignetes Gelände ist umzäunt oder es laufen noch Arbeiter zwischen den Pflanzen-Kolonnen rum.

Am Tor einer Farm sehe ich einen Arbeiter, den ich frage, ob wir denn auf dem Farm-Gelände zelten dürften. Der Arbeiter muss erst bei seinem “Jefe” fragen. Kurz darauf kommt er zurück, öffnet uns das Tor und schickt uns zum Haus am Ende des Weges.

Wir werden neugierig, freundlich und herzlich begrüßt. “El Jefe”, seine Frau und ein Vorarbeiter sitzen um einen Tisch auf der Veranda herum und trinken ihren Feierabend-Rum. Claro qué sí, dass wir – bevor hier auch nur irgendwas passiert – erstmal einen Ron mittrinken müssen. Dazu werden zwei Plastikbecher geholt und halb vollgeschenkt.

Bewährungsprobe: Halten unsere Mägen das aus? Wir wägen ab zwischen Höflichkeit und unkalkulierbaren Folgen für unsere Magen-/Darm-Floren und entscheiden uns für die Ron-Variante.

Danach baue ich das Zelt auf – allerdings erst nach ungefähr einer viertel Stunde Diskussion, welches denn der am besten geeignete Platz auf dem großen Feld neben dem Wohnhaus wäre.

Leo und ich können unter einer freischwebenden Wasserleitung duschen. Derweil kocht die Frau des Hauses nochmal in der Küche – extra für uns bereitet sie Reis, Kartoffeln, schwarze Bohnen und Spiegeleier zu.

Wir sind fasziniert und verblüfft von dieser Gastfreundschaft.

Als ich anfange, aus meiner Jugend auf dem Bauernhof zu erzählen, leuchtet ein Feuer in den Augen des Chefs auf. Was wir denn damals angebaut hätten und ob wir auch so einen famosen Boden hätten wie er hier auf seinem Land. Nein, antworte ich – unser Boden sei zwar gut und mit der Fruchtfolge wuchsen Kartoffeln, Rüben und Getreide sehr gut, aber an die Güte dieser Böden hier kommt der deutsche Boden nicht ran.

Nachdem die Flasche mit dem guten Ron de Cuba geleert ist, legen wir uns ins Zelt. Morgen früh müssen wir um sieben raus, da dann die Arbeiter kommen, um die Felder zu bestellen. Die Felder mit der roten Erde, von der wir ein wenig sogar bis nach Hause mitnehmen werden.

2. April 2012 – Montezuma rächt sich

Um Mitternacht ist mir schlecht.

Leo auch.

Er muss kotzen. Ich überlege, ob ich auch kotze. Lasse es und warte ab. Mit einem Scheißgefühl im Bauch, wissend, dass ich eigentlich besser rausgehen müsste. Aber vor der Erleichterung ist ja immer dieses Gefühl, den Finger in den Hals stecken zu müssen und dann die Magenkrämpfe zu erleben, die den bitter säuerlichen Brei nochmal über die Geschmacksrezeptoren heben. Nein, ich nicht. So schlecht geht’s mir dann wohl doch nicht.

Leo ist erleichtert, sagt kaum ein Wort.

Irgendwann in der Nacht muss er nochmal raus. Ich denke an diese jetzt ekelige Erdnusspampe, die wir aßen und überlege ob ich nicht doch auch raus gehe. Aber es scheint ja nicht zu helfen, Lennart ist’s immer noch schlecht. Dann liegt das wohl nicht an der Erdnusspampe sondern an den Tomaten, die wir am Nachmittag ungewaschen aßen. Keime also. Na dann: Montezumas Rache. Ich werfe zwei Kohletabletten ein und gebe Lennart auch zwei. Allerdings: Wenn wir kotzen gehen, sind die wieder draußen. Egal. Rein damit.

Die Nacht ist für uns beide der Horror. Wir stöhnen beide vor uns hin, dösen ein, wachen wieder auf und so weiter. Immer schön im Wechsel.

Irgendwann wird es hell, aber an Weiterfahrt ist nicht zu denken. Der Himmel hat aufgeklart, keine Wolke am Himmel, kein Regen zu erwarten. Wenigstens etwas.

Allerdings gibt es hier, wo unser Zelt steht, keinen Schatten. Die Sonne erhitzt das Zelt schnell auf gefühlte vierzig Grad. Ich gehe raus aus dem Zelt, nehme mir meine Isomatte mit und lege mich an ein Gebüsch, das zumindest nur einen Teil der Sonnenstrahlen durchlässt. Leo kann nun in der Zeltapsis liegen und den Schatten des Eingangs nutzen ohne drinnen gegart zu werden.

Uns geht es immer noch dreckig und es wird wärmer. Und wärmer. Wir werfen uns wieder Kohletabletten ein, ich merke jetzt, dass ich das muss, was die Mediziner in ihrer höflich sachlichen Sprache “Stuhlentleerung von herabgesetzter Konsistenz” nennen. Zum Glück haben wir eine ganze Rolle Klopapier in der Lenkertasche.

Das Essen von gestern ist nun sowohl von Leo als auch von mir nur dürftig verdaut im Gebüsch versteckt.

Nach drei weiteren Gebüschgängen ist es nun Mittag und wir müssen hier aus der Sonne raus, da das Gebüsch nun gar keinen Schatten mehr bietet.

Es geht uns leicht besser, aber fit sein ist anders. Wir packen unsere Sachen in kontemplativer mechanischer Trägheit. Sagen nichts. Leo sieht nicht gut aus. Ich frage ihn ob er meine Radschuhe letzte Nacht anhatte, denn in der Apsis liegen sie nicht mehr. Er antwortet mit “Nein” und sucht seine Packtasche. Die mit seinen Klamotten drin.

Wir schauen uns an, um, wieder an. Geklaut. Aus der Apsis raus. Eine Radtasche mit T-Shirts, Radhemden und sonstigen Wäschestücken sowie ein paar Radschuhe mit Klickies drunter. Geht das überhaupt? Wer klaut sowas und lässt dafür die unabgeschlossenen Fahrräder stehen?

Das müssen die Bauern gewesen sein, die hier gestern abend schon vorbeigingen und die auch heute morgen recht früh schon unterwegs waren. Da muss wohl einer von denen einen Moment abgepasst haben, in dem Lennart und ich ausnahmsweise mal schliefen. Aber die Apsis war doch zu, der Zelteingang verschlossen! Wahrscheinlich hat der Dieb einfach drunter gegriffen und sich das raus geholt was greifbar war.

Nun, ich muss jetzt mit Adiletten auf Klickpedalen fahren und Leo und ich müssen uns nun meine Unterwäsche und T-Shirts teilen.

Hier in Kuba haben gute Schuhe eine große Bedeutung. Deshalb bin ich auch gar nicht so sauer. Für den neuen Besitzer sind meine Radschuhe ein kleines Vermögen. Wenn der die Stahl-Cleats drunter abschraubt, hat er ein paar gute Wander- und Arbeitsschuhe. Die Bauern hier laufen mit Gummistiefeln rum, die zumeist mit Fahrrad-Flicken beklebt sind, um Gebrauchslöcher wieder zu schließen. In den Bodegas gibt es schlichtweg nur Gummistiefel zu kaufen und in den Läden der Städte sind Schuhe so teuer, dass sie sich ein einfacher Mensch kaum leisten kann. Außerdem ist die Qualität der Schuhe aus heimischer oder chinesischer Produktion einfach nur miserabel.

Also: Leos Klamotten und meine Schuhe sind unfreiwillige Entwicklungshilfe, sie haben für ihre neuen Besitzer einen extrem viel höheren Wert als für uns.

Eine der Ikea-Taschen funktionieren wir zu Lennarts neuer Packtasche um – geht. Jetzt müssen wir noch das Schuh-Problem lösen. Wir sammeln Fakten: Ich habe ausschließlich Klickpedalen – sind mit Leichtsandalen nicht zu fahren. Die einzigen Schuhe, die ich jetzt allerdings noch habe, sind Leichtsandalen. Lennart hat Wechselpedale, das heißt: Er kann sowohl mit Klickpedalschuhen als auch mit Normalschuhen fahren. Und Lennart hat keine Leichtsandalen sondern noch Sportschuhe mit. Was uns fehlt, ist ein Fünfzehnerschlüssel, um die Pedalen umzuschrauben. Mein Rad ist für Lennart eine Kleinigkeit zu groß. Lennarts Radschuhe sind mir eine Kleinigkeit zu eng. Lennart kann mit seinen Sportschuhen sein Rad fahren.

Wir entscheiden: Ich ziehe Leos Radschuhe an, fahre weiter mit meinem Rad, Leo fährt mit seinen Sportschuhen sein eigenes Rad. So wird’s gemacht.

Wir fahren los – die Disharmonie unserer Darmfloren lässt nur ein Ziel zu: Das nächste Casa Particular. Unser Problem ist nur: Wir sind hier im landwirtschaftlichen Nutzgebiet der Insel. Touristen verirren sich selten hier her und daher gibt es auch kaum Hotels oder Casas.

Nach 20 Kilometern auf der Carretera Central machen wir Pause an einer Bushaltestelle. Die Bänke sind aus Stein, das Dach wirft Schatten auf die Bänke, wir werfen unsere Isomatten auf die Bänke und es dauert keine fünf Minuten bis wir einschlafen.

Eine Stunde Schlaf kann so gut tun!

Leos Fahrrad mit neuer Satteltasche

Mein Durchfall meldet sich wieder, ich werfe nochmal eine Kohletablette ein. Wir suchen jetzt ein Casa, fragen nach, werden geleitet, kommen an, werden abgewiesen. Beim zweiten Casa das gleiche Spiel. Was ist hier los? Wir sind jetzt in der Nähe der Autobahn – an einer Raststätte trinken wir Cola, um unsere Flüssigkeits-, Zucker- und Mineralhaushalte wieder zu stabilisieren. Der Geruch von Gegrilltem und der Anblick dicker mampfender Fernfahrer auf der Veranda der Raststätte begrenzt unseren Genuss.

Nach weiteren vierzig quälend langen Kilometern finden wir in Santa Cruz de los Pinos ein Casa, nachdem wir mindestens drei vorige angesteuert und abgefragt hatten.

Dafür sind die beiden älteren Leute, denen das Haus gehört, sehr besorgt um uns. Wir können erst um acht in unser Zimmer – bis dahin sei es besetzt, sagen sie. Aber dafür richten sie die Veranda für uns ein und wir fallen ziemlich matt auf die in Kuba verandaobligatorischen Schaukelstühle. Unsere Wäsche können wir zum Waschen abgeben, unsere Gastgeberin serviert uns eine Karaffe mit kaltem verdünnten Guarapo, in dem Eiswürfel schwimmen.

¡Hombre, que día!

Aber jetzt geht’s uns wieder gut.

1. April 2012 – Schotten für Deutschland und die Carretera Central

Kein Aprilscherz: Ich weiß nicht, was für ein Tag heute ist. Dienstag oder Sonntag oder Donnerstag? Egal. Leo geht’s genauso. Gutes Zeichen, im Urlaub angekommen.

Jetzt ist Packen angesagt. Olga bereitet ein gutes und reichhaltiges Frühstück vor.

Gestern abend kam Olgas Sohn noch zu Besuch. Sein Motorrad, eine alte Zweitakt-Jawa, steht im Wohnzimmer. Und meine Mutter schaute früher schon schief, wenn ich mal ein Fahrrad in den Hausflur geschoben hatte…

Gegen zehn verabschieden wir uns. Tränen stehen in Olgas Augen, sie küsst Lennart herzlich und mich dann auch. Ich glaube, dass wir hier in Kuba insgesamt ganz sympathisch rüber kommen. Ich muss aber auch schlucken – die Menschen hier in Kuba kommen bei mir eben auch ganz sympathisch rüber, meistens jedenfalls. Leo ist von Olga begeistert. Ihre ruhige, gelassene Art – gepaart mit einer Extra-Portion Herzlichkeit lässt uns den Abschied schon sehr schwer fallen.

In Viñales kaufen wir in einem Laden noch eine Flasche Wasser für den Weg. Ein Schotte bestaunt draußen unsere Räder, allerdings dauert es genau zwei Sätze, bis wir beim Thema Fußball gelandet sind. Wir lernen, dass die Schotten, wenn die Engländer gegen Deutschland spielen, in deutschen Nationaltrikots vorm heimischen Fernseher sitzen. Oder noch besser so eingekleidet in englischen Pubs öffentlich Fußball gucken.

Wenn wir jetzt nicht nach Pinar del Rio sondern nach Glasgow fahren würden und in einem Pub all die Schimpfwörter gegen England, die Queen, Chelsea und die “Three Lions” aufsagen würden, die wir gerade lernen, würden wir die schottische Zuneigung den Deutschen gegenüber erheblich vertiefen. Jogi Löw sollte nach einer irgendwann mal möglichen Demission nach Schottland gehen und dort Nationaltrainer werden. Sie würden ihn wie einen der ihren empfangen. Vor allem weil er weiß, wie man England schlägt. Was ja eigentlich nur bedeutet, dass man bis zum Elfmeterschießen ein Null zu Null halten muss.

Der größte Wunsch unseres Schotten hier in Viñales ist, dass Deutschland die “bluddy fuck’n” Engländer bei Olympia in London im Endspiel besiegt. Ich weiß noch nichtmal ob sich Deutschland überhaupt qualifiziert hat. Ist mir auch egal. Hauptsache, Reiseradeln wird nicht olympisch.

Kurz hinter Viñales, auf dem Weg nach Pinar, kommen wir an einem Hotel vorbei, dessen Ausblick allein wohl schon mal eine Übernachtung wert ist. Vom Restaurant-Bereich draußen aus wandert das Auge über das Viñales-Tal und kommt gar nicht mehr zur Ruhe. Eine wunderbare Aussicht.

Aber wir stellen uns das Essen dort einfach nur vor – ab hier ist unsere Route endlich mal flach – wir wollen hundert Kilometer schaffen.

Pinar del Rio ist die Provinz-Hauptstadt: Eine quadratisch aufgebaute Stadt, in der der Tabak das Sagen hat. Und in der der Papst von rosa Kirchen winkt.

Zwei angetrunkene Männer mit einem quiekenden Ferkel auf dem Arm kommen auf uns zu, als wir eine Orientierungspause einlegen. Wir sollen sie fotografieren, da das doch so lustig aussieht. Für ein paar Pesos mache ich das, lösche die Bilder aber gleich wieder.

Als wir aus Pinar rausfahren, zeigt ein Wegweiser, dass es eigentlich egal ist, wohin man fährt. Es geht immer in die Vergangenheit, in die Zukunft, in das Jetzt. Manchmal frage ich mich, wo wir hier in Kuba sind. Ist das Jetzt hier Vergangenheit, Zukunft? Ingenieure würden sicherlich überall das Alte sehen, das zu verbessernde. Bei Soziologen wäre ich mir unsicher. Ich könnte mir vorstellen, dass die Art zu leben wie in Kuba eine mögliche Alternative zu unserem aktuellen Weg in ein ökologisches und ökonomisches Desaster ist.

Wir nehmen jetzt die Carretera Central, eine Landstraße, die die Insel von West nach Ost komplett durchquert. Sie hat für Kuba eine große historische Bedeutung, bis zum Bau der Autobahnen verband sie als einzige Verbindung alle wichtigsten Städte des Landes mit einer befestigten Fahrbahn. Das gilt natürlich heute immer noch. Sie scheint aber auch eine soziale Funktion zu haben: Auf ihr sammeln sich Fußgänger, Trekker, Laster, Autos, Fahrräder, Ochsenkarren – alles was gehen, laufen oder fahren kann. In den Ortschaften, durch die sie führt, ist sie Treffpunkt und Marktplatz zugleich.

Mit unseren Rädern befinden wir uns also in bester Gesellschaft, hier auf der Carretera Central. In Consolacion del Sur sehen wir eine alte Eismaschine, die von einem jungen Mädel betrieben wird. Wir wissen zwar nicht wie das funktioniert, aber das Ding ist groß, laut, irgendwas wird mit einem dicken Treibriemen angetrieben – die Maschine erinnert mich eher an eine Getreidemühle von früher in der Scheune meines Großvaters als an eine Maschine, die Eis produziert. Uns ist’s auch ehrlich gesagt egal. Wir kaufen uns einfach jeder ein Eis und… es schmeckt hervorragend!

Es gibt nur eine Sorte und die ist weiß. Wahrscheinlich ist das Vanille oder Fior di Latte oder sonstwas in der Richtung. Dafür sind die Häuser, die Autos, die Treppenstufen, die Menschen, die Launen, die Musik, die Soldaten – alles ist hier bunt.

Weiter geht’s. Gegen fünf Uhr nachmittags erwischt uns ein Regengebiet. An einer Kreuzung in einem Ort stellen wir uns unter das Dach einer Halle und warten auf besseres Wetter. An einem Kiosk nebenan kaufen wir Paprika und Tomaten, die wir gleich essen. Für das Abendessen im Zelt haben wir schon Brot und Erdnuss-Mus aus Viñales im Gepäck.

Der Regen hört auf, wir fahren weiter. Nach kurzer Zeit allerdings beginnt es erneut zu regnen. Kurzerhand biegen wir auf einen Feldweg ab, in die Pampa in Richtung eines Sees, an dem wir zelten wollen.

Es regnet nun in Strömen, allerdings ist es warm – kein Problem. Das Zelt ist schnell aufgebaut, wir waschen uns in einem kleinen Bach nebenan und unter der großen “Natur-Dusche”. In der Zelt-Apsis trocknen wir uns nacheinander ab und bereiten uns dann im Zelt selbst ein leckeres Abendessen zu: Erdnuss-Mus-Bananen-Brot.

Um acht ist es dunkel, wir schlafen schnell ein.

31. März 2012 – Ruhiger Tag, heißer Abend

Unser Ruhetag in Viñales beginnt mit einem wunderbaren Frühstück bei Olga, unserer Gastgeberin. Sie ist eine herzensgute Frau, die die manchmal melancholische Ruhe Kubas ausstrahlt.

Einer kurzen Tour durch den Ort folgt ausgiebiges Faulenzen auf der Veranda in den Schaukelstühlen. Ein echter Ruhetag, wunderbar passend zur Aura dieses Hauses.

Zum Abendessen gibt es Hühnchen (nicht ganz so gut wie bei Toni).

Jetzt fehlt noch der krönende Abschluss des Tages: Mojitos. Also gehen wir nochmal raus, auf die Suche. Viñales lebt bei Einbruch der Dunkelheit offensichtlich auf. Was am Morgen noch die lethargisierende Hitze widerspiegelte, hat sich in vitalisierende Lebendigkeit gewandelt. Überall hören wir Musik, überall sind Menschen auf der Straße, in den Bars, auf den Veranden der Hauptstraße.

In einer Bar wird gerade ein Live-Auftritt vorbereitet. Wir wissen zwar nicht, was dort gespielt werden wird, aber das Ambiente und die erwarteten Mojitos laden uns fast schon aufdringlich ein. An einem kleinen Tisch ziemlich weit vorn sitzt bereits eine Französin, irgendwas zwischen dreißig und vierzig, die momentan in Mexiko lebt und jetzt in Kuba Urlaub macht. Höflich fragen wir, ob wir uns dazu setzen können. Klar, kein Problem. Warum fragen wir überhaupt?

Auf der Bühne schräg vor uns arrangieren sich mindestens neun Musikerinnen und Musiker. Sie sind zwischen zwanzig und geschätzten hundert Jahren alt. Eng geht’s zu dort, aber das ist kein echtes Problem. Der Älteste zeigt mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht was er drauf hat: Rhythmusgefühl. Im allgemeinen Instrumenten-Klangteppich kann ich seine Gitarre nicht heraushören, aber warum er so alt ist, kann ich sehen: Musik, Rhythmus, Chicas. Wahrscheinlich Abend für Abend. Und irgendwann wird er einer der hübschen Tänzerinnen hinterherlaufen, hinterhertanzen, hinterherspielen und einfach nur umfallen. Gar keine Chance haben, sein Lächeln und seine Glückseligkeit zu verstecken. Aber heute abend halten sie ihn noch zurück.

Die Band spielt sich warm. Der Sänger ist echt cool. So ein langer Schlacks mit einem Strohhut auf dem Kopf. Seine Mimik, Gestik, Bewegung verschmelzen im Salsa der Band zu einer ansteckenden Eurythmie. Was er rüber bringt, ist klar: Die vertikale Expression eines horizontalen Aktes.

Noch besser können das die beiden jungen und hübschen Tänzerinnen, die zum zweiten Lied vor die Bühne treten und die die Musik in Bewegungen umsetzen. In Bewegungen, die sie schon seit ihrem zweiten Lebensjahr drauf haben. Ich wusste nicht, wie ästhetisch menschliche Bewegung sein kann.

In dem Augenblick, in dem ich das Lennart sagen will, kommt die kleinere, weiße Chica an unseren Tisch und fordert mich auf mit ihr zu tanzen. Na klasse: Verglichen mit den beiden ist das Deutsche Fernsehballett eine Ansammlung kühler Stelzen und ich soll genau jetzt vor kubanischem Publikum mit denen tanzen. Die große dunkelhäutige Chica schnappt sich Lennart. Wenigstens bin ich nicht allein. Wir machen mit, so gut wir können. Und nein: Dies ist keine Touri-Kneipe. Die Französin, zu der sich noch eine französische Freundin gesellt, und wir beiden Deutschen scheinen die einzigen Touris zu sein. Zumindes im engeren Umfeld der Bühne. Und die Bar ist voll. Die beiden Mojitos, die ich schon intus habe, machen meine Beine locker. Um meine Hüfte kümmert sich meine Partnerin. Sie fasst meine Hände, hält sie fest, dreht sich zur Hälfte um sich selbst und dockt dann mit ihrem verlängerten Rücken bei mir an. Ich kann mich nicht befreien. Ob ich will oder nicht – ich muss den libidinösen Bewegungen ihrer Hüfte folgen. Es funktioniert auch. Ich kann tanzen! Salsa, Rumba, Son – ich weiß zwar nicht was, aber es ist mir auch egal. Leo geht’s offensichtlich genauso und das Publikum applaudiert. Vergiss die deutsche Tanzschule – spende das Geld lieber an die Welthungerhilfe. Hier lernst Du tanzen! Nach der Hüfte ist der Oberkörper dran: Meine Tanzlehrerin dreht sich wieder zu mir und zeigt mir, wie die gleiche Idee ihrer Hüftbewegungen bei den Schultern anfangend mit dem Oberkörper aufgenommen und weitergeführt werden kann. Ich erinnere mich an meine Pilates-Übungen und versuche, sie im Rhythmus der Musik zu praktizieren. Das funktioniert gut. Leo scheint sich auch nicht gerade zu langweilen.

Nach dem zweiten Lied gesellen sich noch weitere Paare aus dem Publikum zu uns und Leo und ich können wieder an unseren Tisch zurück. Die beiden Französinnen sind begeistert. Wie sich herausstellt, ist eine von den beiden Tänzerin in einem klassischen Ensemble und muss in den nächsten Tagen nach Bratislava zu einer Aufführung. Auch mit ihr tanze ich dann mal. Ich Bewegungslegastheniker. Aber es funktioniert und macht Spaß. Wir kommen uns ziemlich nah – näher als es für den Urlaub mit Leo gut ist. Ich verdränge alle Gedanken, die jetzt nicht hier her gehören und genieße einfach die Musik und die Bewegung.

Gegen ein Uhr nachts sind wir wieder zurück in unserem Casa. Unglaublich, was in einem solchen Urlaub alles geschieht. Wenn man es zulässt.