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24. November 2011 – Vom Aus- und Einsteigen in einer Kasbah

Mistwetter! Kälte, Regen, Wind! Super-Kombi für Radfahrer. Einer der erwartetermaßen schönsten Abschnitte fällt dann wohl ins Wasser: Das Vallee du Draa.

Beim Bezahlen des Hotels frage ich Ahmed nach dem Rabatt. “Non!” – klare Ansage. Ich zahle, verabschiede mich mit einem Lächeln, Ahmed lächelt vielsagend zurück.

Auf dem Hauptplatz von Agdez kaufen wir noch ein paar Lebensmittel, trinken noch einen Tee und fahren dann aber auch los. Das Wetter wird ja durch’s Rumsitzen auch nicht besser.

Die Straße nach Zagora ist eng und viel befahren. Die japanischen und die alten französischen Laster haben alle ihre Auspuffrohre auf der rechten Seite auf Brusthöhe eines Radfahrers und pusten uns immer schön Ruß und Dieselgestank in die Nasen. Jedesmal, wenn ich von hinten so ein Ding herandröhnen höre, hole ich tief Luft und halte diese für rund zehn Sekunden an, bis der Wind (Gegenwind!) den Qualm verdünnisiert hat. Bergauf verkürze ich diese Zeit zwangsläufig auf rund fünf Sekunden.

Karla trägt eine sehr gute Regenjacke. Eine in diesen tollen Farben, die gar nicht mehr wie Farben genannt werden. Das heißt ja heutzutage nicht mehr “blau” sondern “marine”, nicht mehr “lila” sondern “taupe”, nicht mehr “gelb” sondern “sonne” oder so…

Karlas Jackenfarbe jedenfalls würde ich bezeichnen als “nasserfelsimvalleedudraa”. Was modisch sicher top ist, ist signaltechnisch für eine Radfahrerin im Regen auf einer vielbefahrenen marokkanischen Straße mit nassen Felsen im Hintergrund, auf der viele Autos nicht mal einen Scheibenwischer besitzen, eher suboptimal. Nach zwei bis drei sehr heiklen Situationen mit dem fließenden motorisierten Verkehr und zwei Stunden Regenfahrt entscheiden wir uns bei einer Tasse heißen Tee und einem superleckeren Omelett dafür, das Draa-Tal auszulassen und hier jetzt direkt über Tazzarine nach Rissani zu fahren.

Die Straße führt bergauf Richtung Nordosten. Jetzt beginnt ein echter Kampf gegen den Wind. Karla hat die besseren Beine und fährt vorn. Ich sehe zu, dass ich im Windschatten bleibe.

Es ist komisch, aber die Landschaft hier gefällt uns beiden wesentlich besser als das, was wir vom Vallee du Draa bisher sahen. Und der Verkehr ist merklich ruhiger hier. Richtige Entscheidung also.

Wir haben den ganzen Tag Regenklamotten an, schwitzen so gut wie gar nicht. Heute zeigt sich mal wieder, was gute Sachen ausmacht. Meine Bremsen allerdings benötigen bei Regen eine unakzeptabel lange Bedenkzeit, bis sie ihrer bestimmungsgemäßen Funktion nachgehen. Das liegt wohl an der Beschichtung der Felgenflanken. Hält zwar ewig, aber funktioniert nicht bei Nässe. Ich merke es mir für die nächsten Bremsvorgänge. Bremsen werden meines Erachtens sowieso überschätzt an so einem Reiserad. Aber das darf ich – glaube ich – nicht schreiben. Hier und heute hat sie nun 5.000 Kilometer geschafft, meine Rocinante. Und das seit Frühjahr diesen Jahres. Ich bin stolz auf sie. Noch nicht einen einzigen Platten hatten wir. Geschweige denn einen anderen technischen Defekt. Wenn ich an das Drama mit meinem Trecker in Alaska denke… Nee, ich mag sie sehr, meine neue Begleiterin. Hoffe, dass wir es lange miteinander aushalten. Die Felgen haben jedenfalls noch keinen sichtbaren Verschleiß, die Bremsklötze auch noch nicht. Und ich bin schon vollbeladen durch die andalusischen Berge, die Pyrenäen, den Luberon, Verdon, die Seealpen und über den Alpenhauptkamm gefahren. Und den Antiatlas jetzt hier. Also: Ein Rundumsorglosfahrrad. Danke, liebe Leute von Idworx. Meine Rocinante kommt, so wie sie jetzt ist, meiner Vorstellung von einem perfekten Reiserad schon sehr nahe. Einzig der Name gefällt mir nicht so: Easy TiRohler hört sich ein wenig nach österreichischer Reiseagentur für Menschen mit begrenztem Horizont an. Und die Abkürzung “ETiR” würde ich eher mit einem animalischen Pedelec assoziieren. Für mich ist’s meine Rocinante.

Gegen Abend erreichen wir einen Durchgangsort (den Namen will ich unter Hinweis auf den folgenden Dialog und mit Rücksicht auf unsere Gastgeber nicht nennen) und entscheiden uns für eine warme Dusche nebst Hotel. Am Ortseingang winken uns zwei Männer zu und zeigen uns ihre Kasbah. Eine wunderschöne Anlage! Aber 800 Dirham wollen sie für die Nacht. Wir verdeutlichen, dass das unser selbstgestecktes Budget überschreiten würde. Ich signalisiere allerdings Verhandlungsbereitschaft. 700 – nächste Stufe. Meine Lektion habe ich ja in Agdez gelernt. “400” sage ich – das wäre sowieso schon zu viel, aber unser Maximum. “600” der Hotelier. “Non, pardon” ich. “500, demi-pension inclusif” der Hotelier. Mir ist das fast schon peinlich, da ich mich hier auch gar nicht ausgenommen fühle. Dem Hotelier fällt das wohl auch auf, insofern habe ich das Gefühl, dass er mich versteht und es mir dann auch nicht schwer macht oder mir ein schlechtes Gewissen vermittelt. Ich schaue Karla bittend an, sie ist einverstanden. Ich auch, der Hotelier auch.

Die marokkanischen Hoteliers sind bessere Betriebswirte als die in Alaska.

Das war eine wirklich gute Entscheidung! Ich habe mich in meinem Leben bisher noch nie so wohl in einem Hotel gefühlt. Die Anlage ist ein Traum. Ganz liebevoll arabisch eingerichtet, ein Garten mit blühenden Blumen und mit Pfauen, die darin rumlaufen. Lese-Ecken im Haus und sehr geschmackvoll gestaltete Zimmer.

Beim Abendessen lernen wir ein englisches Paar kennen, das letzten Samstag heiratete und nun in den Flitterwochen ist. Sie werden irgenwo um die vierzig sein. Phil arbeitete bei Procter & Gamble im Marketing, Rown in einer Werbeagentur. Seit vier Jahren ist er Wanderführer in Chamonix und sie studiert Medizin in Oxford. “Financial suicide!” sagt Phil, aber jetzt macht er das was ihm Spaß macht (bis auf die “Idiots”, mit denen jeder hin und wieder zu tun hat) und Rown hat ihre Berufung gefunden. Wir diskutieren über Auswege für eingefahrene Wege und Sackgassen im Leben. Die beiden sind total nett und Phil ist mit einer typisch britischen Selbstironie beschlagen. Ich glaube, dass letztlich den meisten Menschen einfach der Mut fehlt, ihre vorgezeichneten Wege zu verlassen. Selbst wenn sie ihre Wege noch nicht mal selbst geplant haben: Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück. Da unterscheiden sich Menschen mit einer eher neugierigen Disposition von denen mit einer eher ängstlichen. Ich selbst habe mich vor Jahren entschieden, meiner finanziellen Verpflichtung den Kindern gegenüber nachzukommen. Bei dem ganzen Lug und Betrug, dem ich während der Scheidungsphase ausgesetzt war, hätte ich schon längst – legitim, aber nicht legal – aussteigen können. Und einige Freunde sagen: “Können? Sollen!”

Letztlich hätte ich aber damit kein glückliches Leben führen können. Die wirklich wichtigen Beziehungen, Dinge und Situationen im Leben hängen nicht vom Bankkonto ab. Wir geben unser Geld zumeist für Sachen aus, die aus Sicht der Glückseligkeit von eher untergeordneter Bedeutung sind. Im Gegenteil: Besitz macht ängstlich und kostet Zeit und Nerven. Angst vor Verlust, Fragen nach Anlagealternativen, Neid auf andere, Neid der anderen, und so weiter.

Ich bin dieser Meinung nicht etwa deshalb, weil ich mir meine “Armut” schönreden will. Nein – mein finanzielles Polster ist meiner Situation angemessen und wird in absehbarer Zeit dafür sorgen, dass ich noch mehr unterwegs sein kann.

Besser kann ich Geld doch nicht anlegen: Zeit und Erinnerungen. Zeit mit mir, Zeit mit den Kindern, Zeit mit der Natur, Zeit mit anderen Menschen, Zeit in anderen Kulturen, Zeit für Reisen – Denken – Leben. Was soll ich mit einem dicken Auto? 30.000 Euro für eine Blechbüchse? Das wären – von netto auf brutto umgerechnet – rund sieben Monate Zeit! Eine Reise durch Mexiko, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama mit einer Runde um Kuba. Mindestens.

Was für ein Wert! Und was machen all diejenigen Menschen in meinem Umfeld, die immer jammern, sie würden auch gerne mal aussteigen? Ein Auto, eine neue Küche, ein Anbau am Haus, ein Swimmingpool – das sei doch was Reelles! Gefangen. Gefangen in Traditionen, in archaischen Leidenschaften: Sammeln, jagen, verteidigen.

Ich habe letztens einen Vortrag von einem Professor aus Oldenburg gehört, Niko Paech heißt er. Er sagt, dass wir unsere Welt nur dann retten können, wenn wir nicht nur auf Wirtschaftswachstum verzichten sondern unsere Wirtschaftsleistungen um mindestens fünfzig Prozent schrumpfen würden. Postwachstumsökonomie nennt er das.

Ich wäre dabei! Halbe Arbeit, halbes Geld, drittel Steuern, doppelte Zeit zur freien kreativen Disposition, Klimaschutz inklusive. Wie gesagt: Wenn die Kinder ihr eigenes Geld verdienen, könnte das für mich Realität werden. Vorher werde ich ihnen noch empfehlen, in Oldenburg Postwachstumsökonomie zu studieren. Wer soll’s denn umsetzen, wenn nicht die Kinder? Ach ja – ich kann ja auch.

Am liebsten im Jahreszeitenrhythmus: Halbes Jahr arbeiten, halbes Jahr aussteigen. Oder ein Jahr arbeiten, ein Jahr aussteigen. Wieso eigentlich AUSsteigen? EINSTEIGEN!!!

Aber ganz so konsequent wie die beiden Briten werde ich nicht sein. Auch nicht sein wollen. Ohne Arbeitsphasen keine Vorfreude auf die Reisephasen. Vergleichbar mit den Jahreszeiten: Ohne Winter wäre der Frühling für mich nur halb so schön. Und selbst der Winter hat wunderbare Momente, die der Frühling nicht hat. Also werde ich ziemlich locker in die Zukunft sehen und gehen.