9. Juni 2017 – Unterwegs zum höchsten Ort meines Lebens

Am Morgen baue ich mein Lager ab, fahre weiter Richtung Taglang La.

Die Hinweise der himalayaischen Straßenbaugesellschaft HIMANK sind amüsant.

Das Book of Joy beschäftigt mich noch. Großzügigkeit ist eines seiner Themen.

Eine der notwendigen Grundlagen für Freude. Aus Sicht des Dalai Lama, wohlgemerkt. Ich kann das nachvollziehen, wenngleich ich mich kritisch frage, ob ich denn nun großzügig sei. Und somit in der Lage, Freude zu empfinden. Großzügig bin ich, wenn ich etwas von mir gebe. Abgebe. Abgeben ist konnotiert mit weggeben, überlassen, aus dem eigenen Besitz entnehmen und verschenken, ohne dafür eine Gegenleistung erwarten zu dürfen. Und dabei geht es nicht um Dinge, Gefühle, Gedanken und Zeit, die ich nicht mehr brauche oder sowieso einsetzen muss oder will. Nein, es geht um echtes Abgeben. Um Verzicht auf eigene Ressourcen zugunsten eines anderen.

Großzügigkeit braucht – ja – den anderen, denjenigen, der meine Abgabe nimmt. Ohne diesen Gegenüber kann Großzügigkeit nicht entstehen. Wenn ich etwas von mir loswerde ohne dass es jemand empfängt, dann entsorge ich, dann werfe ich weg.

Großzügigkeit braucht also den anderen, ist also etwas Soziales.

Großzügigkeit ensteht aber nicht allein durch die Tat an sich. Wenn ich etwas verliere und jemand anderes nimmt es und ich akzeptiere das, dann bin ich nicht großzügig. Genauso wenig bin ich großzügig, wenn ich etwas verschenke und damit erwarte, dass ich etwas zurückgeschenkt bekomme. Und enttäuscht bin, wenn ich nichts zurückgeschenkt bekomme. Das wäre dann ein Handel, eine Art Vertrag ohne Papier. Manchmal sogar ein Vertrag, bei dem der andere gar nicht weiß, dass er Vertragspartner ist.

Großzügigkeit braucht also auch eine innere Haltung. Und da wird es problematisch. Zumindest für einen Jäger und Sammler wie mich. Ich bin doch auf Überleben getrimmt. Und das heißt in erster Linie: Nimm was du kriegen kannst. Und nicht: Gib was du geben kannst.

Ich muss also – bevor ich Freude über Großzügigkeit empfinden kann – irgendwie meine Ratio über meine Instinkte legen. Ich muss also all die Instinkte, die das Nehmen, das Kriegen beflügeln, erkennen und kritisch hinterfragen. Als da wären: Egoismus, Neid, Angst, Gemeinheit, Lüge und wahrscheinlich noch einiges mehr.

Ich muss in Kauf nehmen, dass ich für Dinge, die ich abgebe, “umsonst” gearbeitet habe, “umsonst” Geld oder Zeit oder Kraft oder Emotionen eingesetzt habe. Mein Einsatz “lohnte” sich nicht, da ich ja nun die “Belohnung” weggebe.

Beispiel: Ich nehme einen Tag Urlaub, um einem Freund beim Umzug zu helfen. Oder ich schenke einem meiner Söhne eines meiner Fahrräder. Oder ich höre einer Freundin zum zigsten Mal zu, wenn sie sich mal wieder nicht entscheiden kann welches Auto, Haus, Möbelstück, Kunstwerk oder sonstwas sie kaufen soll.

Warum soll ich das tun, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? Ich arbeite für meinen Urlaub, könnte mit dem Rad in der Zeit an die Ostsee fahren. Mein Fahrrad könnte ich auch verkaufen anstatt es zu verschenken und mir mit dem Geld ein tolles Hotel im Urlaub gönnen. Und während ich meiner Freundin zuhöre, könnte ich eine Runde durch den Stadtwald laufen – was ich vielleicht sogar auch lieber täte. Und was gesünder wäre.

Ich bekomme Gegenleistungen dafür. Dankbarkeit. Und wenn die Menschen, denen ich gegenüber großzügig bin, wirklich dankbar sind, dann empfinde ich deren Freude als eigene Freude. Das ist es was ich empfange für meine Großzügigkeit. Ich bin – glaube ich – auch nicht großzügig gegenüber Menschen, von denen ich keine Dankbarkeit erwarte. Der aggressive Bettler, dem ich kein Geld gebe, zeigt keine Dankbarkeit – er erwartet schließlich das Geld von mir, er presst es mir fast schon ab. Der Punk jedoch, der mit seinem Hund in der Fußgängerzone sitzt und der sich über den Euro freut, den ich ihm in seinen Becher werfe, der sorgt mit seiner Dankbarkeit für einen kurzen Moment der Freude bei mir.

Und da unterscheidet sich Großzügigkeit auch vom Altruismus, von der Selbstvergessenheit. Während letzteres das Ich hinten anstellt, dient Großzügigkeit durchaus eigenen Interessen – natürlich auch denen der anderen. Und auf lange Sicht – über die Freude, die sie bereitet – auch meiner Lebenszufriedenheit (spoiler alert: wann Großzügigkeit in Richtung Arroganz abdriftet, könnte ich irgendwann nochmal herausfinden und erfühlen).

Insofern lohnt es sich wahrscheinlich, seine eigene Haltung immer mal zu überprüfen und Großzügigkeit zu reflektieren, zu lernen und regelmäßig zu praktizieren.

Ich bin hier jedenfalls großzügig mit Lächeln, mit Winken, mit Zunicken, mit Grüßen und mit Dankesagen. Und ich bekomme Lächeln, Winken und so weiter zurück. Hier in Ladakh sind es vor allem die Kinder, die sich ehrlich freuen, wenn ich ihnen zuwinke. Anders als in Marokko zum Beispiel, wo die Kinder häufig nach Geschenken fragten und mit Steinen warfen, wenn sie keine bekamen.

Am Wegesrand sehe ich eine indische Großfamilie, die ein kleines Lager aufgebaut hat. Ich winke ihnen zu, sie winken zurück und bedeuten mir, dass ich zu ihnen kommen soll. Ich halte an und bekomme ein Angebot, mit den Leuten zu frühstücken – die Kocherei dauere nicht mehr lange und einen heißen Tee könne ich sofort bekommen. Es ist ziemlich frisch hier oben und die Aussicht auf einen heißen Schluck, der mir die Kehle und den Bauch wärmt, sind verlockend.

Ich rede ein wenig mit den Kindern und schenke dem kleinsten ein Plastikauto, das ich zuvor auf der Straße fand. Dem Auto – eine Art Überraschungsei-Utensil – fehlte zwar die Vorderachse, aber ansonsten kann ein Kind mit etwas Kreativität und gutem Willen noch damit spielen. Die Kinder hier freuen sich jedenfalls über das Geschenk. Es ist mir egal ob sie sich über das Auto freuen oder einfach nur darüber, dass sie etwas geschenkt bekommen. Ich freue mich jedenfalls über die kindliche Freude und habe meine Großzügigkeits-Praxis erweitert.

Die Erwachsenen freuen sich auch darüber, dass sich die Kinder freuen und dass ich mit ihnen Tee trinke.

Heute ist irgendein heiliger Tag oder ein Tag der Heiligen. Die Buddhisten in der Gegend hier bessern überall Stupas aus. Stupas sind Gedenkstätten, die ursprünglich Gräber waren. Allerdings sind heutzutage nicht alle Stupas Gräber. In jedem Fall symbolisieren die Bauwerke jedweder Größe den Buddha und seine Lehren. Und heute werden sie repariert, bemalt oder getüncht. Von einzelnen Buddhisten oder von ganzen Handwerker-Gruppen.

 

 

Außerdem treffe ich auf meinem Weg zum Pass immer wieder auf Pilgerer und auf Männer und Frauen, die zu Fuß unterwegs sind, um andere Leute zu besuchen oder Stupas abzulaufen.

Am Nachmittag gelange ich an eine Brücke über den Gletscherfluss, der mir schon seit gestern entgegenkommt.

Noch bevor ich die Brücke überhaupt sehe, höre ich schon einen meditativen Gruppengesang, der mich an einen Frauenchor erinnert. An einen Frauenchor in einem buddhistischen Kloster.

Tatsächlich singen hier Frauen. Frauen bei der Arbeit. Frauen, die schwere Steine schleppen, sie zertrümmern und auf LKWs werfen.

Männer gibt es hier auch, sie stehen auf der Baustelle rum und kommandieren.

Ich beobachte die Szene mit großem Interesse und einer tiefen Ruhe in mir. Ich habe nicht den Eindruck, dass hier irgend jemand unglücklich wäre. Von weiter entfernt nehme ich ein paar Fotos auf. Ich stelle mein Fahrrad ab und gehe auf die Gruppe zu. Ich frage, ob ich Fotos auch aus näherer Entfernung aufnehmen darf. Die Leute haben kein Problem damit.

Ich fotografiere ein wenig, gehe zu meinem Fahrrad zurück und hole meine große Tüte mit Studentenfutter, das ich mir in Leh für die Fahrt zusammengekauft habe. Mit der offenen Tüte gehe ich von Frau zu Frau, von Mann zu Mann und biete jedem eine Handvoll Nüsse, Rosinen und sonstiges trockenes Obst an. Die Menschen freuen sich sehr, lachen mich strahlend an und greifen natürlich auch zu.

Als ich durch bin, ist die Tüte fast leer, aber mein Erfahrungsschatz in Sachen Großzügigkeit sehr viel voller.

Irgendwie scheint jetzt aber auch Feierabend zu sein, die Frauen hören auf zu arbeiten, steigen auf einen bereit stehenden LKW, auf die Ladefläche, und werden dann wahrscheinlich in ihre Dörfer gefahren. Zum Schluss winken mir alle noch mal freundlich zu, ich steige wieder auf mein Rad und fahre weiter, Richtung Tanglangla.

Als ich unterwegs mal wieder fotografiere, hält neben mir ein Militär-Laster und vier Soldaten steigen aus. Ohje, denke ich, was das wohl werden soll…

Die vier haben mich gesehen und wollen einfach nur ein Selfie mit mir und meinem Fahrrad. Das scheint hier in Indien irgendwie “in” zu sein. Na ja, ich freue mich mit ihnen und lasse mich gern umarmen und umarme zurück. Schließlich fotografiere ich ja hier auch Menschen – warum sollte ich den Soldaten jetzt ihre Bitte verwehren?

Gegen vier Uhr nachmittags merke ich dann langsam, dass mir die Puste ausgeht. Die Höhe lässt mich immer wieder absteigen und schieben. Es ist anstrengend, aber auch überwältigend. Hin und wieder schreie ich vor Freude und freue mich ganz dolle, dass ich hier sein kann und diese Herausforderung bisher so gut meistere.

Allerdings zieht sich der Himmel dort, wo ich hin will, so langsam auch zu. Der Nebel kommt über den Pass auf mich zu. Der Nebel sind Wolken.

Auf circa fünftausend Metern über den Meeresspiegel beginnt es dann zu schneien. Ich ziehe meine Handschuhe an, meine Mütze und meine Regenjacke. Meine Freudenschreie wandeln sich in übelste Flüche, kurz vor dem Pass kann ich kaum noch was sehen. In Rumtse sagte man mir, dass es auf dem Pass ein Hotel gäbe, ich hoffe sehr darauf.

In heftigem Schneegestöber und durchdringender Kälte erreiche ich den höchsten Punkt meiner Reise, den höchsten Punkt, den ich überhaupt bisher zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreicht habe in meinem Leben. Ich halte Ausschau nach einem Gebäude. Das einzige Gebäude, das ich wahrnehmen kann, ist ein Dach mit Säulen drunter, ohne Wände, von einem Hotel kann man dabei nicht reden.

Ich komme dort erst mal unter und überlege, was ich jetzt mache. Mein Zelt aufbauen? Ich habe keine Schneeanker, so dass ich es irgendwo hier an den Säulen oder mit Steinen befestigen muss. Mit Steinen wird wohl nicht funktionieren – wenn der Wind noch stärker wird als er jetzt schon ist, dann fliegt das Zelt mit mir drin wahrscheinlich weg, wenn es nicht ordentlich verankert ist. Ich überlege, ob ich meine Reepschnur nehme und sie um eine Säule schlinge, um daran das Zelt zu befestigen.

In dem Moment, wo ich die Schnur um eine der Säulen legen will, nehme ich die Silhouette eines anderen Zeltes war. Eines Zeltes, das allerdings aussieht wie ein Tipi aus den Wild West Filmen vergangener Jahre.

Ich gehe darauf zu und merke, als ich näher komme, dass in diesem Zelt Menschen sind. Ich öffne die Luke und sehe zwei junge Kerle, die überrascht sind, mich zu sehen.

Die beiden hocken über einem Kerosinbrenner und wärmen sich die Hände. Ich frage, ob ich reinkommen kann und mich ebenfalls etwas aufwärmen kann. Natürlich, kein Problem. Im folgenden Gespräch bieten Sie mir dann an, bei sich im großen Zelt zu schlafen, so dass ich mein Zelt nicht aufbauen muss.

Noch nie hat ein heißer Tee so gut geschmeckt, ein Tchai so dermaßen gut getan, wie jetzt und hier.

Die beiden Jungs sind aus der Gegend hier und betreiben in ihrem Zelt ein kleines Restaurant. Sie erzählen von Motorradfahrern, die ebenfalls hier hin und wieder nachmittags stranden, dann aber weiter fahren müssen, da sie nicht an die Höhe akklimatisiert sind. Es gab wohl schon Fälle, wo Motorradfahrer, die nicht rechtzeitig über den Pass rüber fahren konnten, hier oben übernachtet haben und dann Ödeme in Hirn oder Lunge davontrugen. Das kann lebensgefährlich werden.

Mir trauen die beiden schon zu, dass ich ausreichend an die Höhe gewöhnt bin, da ich schließlich mit dem Fahrrad innerhalb von zwei Tagen hier oben angekommen bin. Das schafft niemand, der nicht ausreichend akklimatisiert ist.

Nach ein paar Tütensuppen als Abendessen legen wir uns relativ früh in unsere Schlafsäcke. Die beiden sorgen sich um mein Wohlbefinden und nehmen mich in ihre Mitte, damit ich nachts nicht friere. Ich habe zwar einen Schlafsack, der bis -30° mein Überleben sichert, aber ich nehme das Angebot dennoch dankend an. Wir werfen noch eine riesengroße Decke über uns alle und schlafen dann auch ziemlich schnell ein.

Spannender Tag.

 

4 thoughts on “9. Juni 2017 – Unterwegs zum höchsten Ort meines Lebens

  1. Tom

    Hallo Jörg,

    Wir kennen uns nicht, ich bin nur zufällig auf deinen Blog gestossen.
    Und wollte mal “Danke” sagen für das grosszügige Bereitstellen deiner reich bebilderten und persönlichen Berichte.
    Ich saugte bisher alles gierig und neidisch auf.
    Das book of joy werde ich auch mal lesen.
    Freue mich schon auf den nächsten Bericht

    Dir weiterhin eine gute und sichere Reise.
    Vg Tom

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  2. Reinhard May

    Hallo Jörg
    Echt der Hammer wo du mit deinen Fahhrad rumkurvst. Für mich wäre das allerdings absolut überhaupt nichts. Ich bin eher faul, ausser wenn’s um’s Fliegen geht, aber das weisst du sicher.
    Ich lese deine Berichte meistens, sind echt spitze.
    Pass auf dich auf.
    LG Mayer

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    1. joeyyy Post author

      Hey Reinhard,

      ich hab noch ‘n Tandem im Keller stehn, kannst ja mal mitkommen. Dafür nimmst du mich dann mal mit deinem Gleitschirm im Huckepack mit 😉

      Ich hatte mal einen Film gesehen, wie ein Drachenflieger vom Manaslu Last Camp (7.400 hm) runter flog. Ist schon genial und ich bin am Überlegen, ob ich nicht auch noch mal mit dem Fliegen beginne.

      Aber die Abfahrt mit dem Fahrrad vom Tanglangla ist auch ganz nett. Der Bericht dazu folgt bald…

      Gruß und bis bald mal in ESW, Jörg.

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