5. April 2011: Kulturvergleich

Mann, war das eine Nacht. Laut und unruhig im Zelt. Da nutzt auch das beste Abspannen nicht viel. Jetzt ist es gerade hell geworden, kann also noch nicht viel später als sieben sein. Ich meditiere, konzentriere mich auf meine Mitte. Finde sie. Oder auch nicht. Schlafe nochmal ein. Bis zehn.

Aufwachen, packen, Banane essen, Wasser trinken, Zelt abbauen, abfahren. ccl+c ruft laut nach mir.

Zum Glück geht es nun fast nur noch bergab. Dennoch weiter gegen den Wind. Für einen Radler ist der Wind der einzige Feind, der zum Freund wird, wenn er ihm in den Rücken fällt. Mir bleibt er Feind heute morgen.

Der ccl+c ruft aus einem McDonalds direkt am Ortseingang von Algeciras. Ich hadere mit meinen Prinzipien, verwöhne mich aber dennoch mit zwei Kaffees (die von McD sind wirklich gut – kann ich leider nicht anders sagen), einem Muffin (Croasanes haben die hier nicht) und meiner Morgentoilette in frisch geputzten Waschräumen. Und genieße die Windstille.

Vom Hafen von Algeciras aus kann ich schon Gibraltar erkennen. Dunkel ist es da drüben. Und kalt sieht’s aus.

Von Algeciras nach Gibraltar geht’s nur über die Autobahn. Rund 15 Kilometer. Wieder lege ich mir eine Ausrede auf spanisch zurecht, falls mich die Polizei anhält. Wieder überholen mich zwei Polizei-Autos und wieder bin ich denen egal. Auch gut.

Gibraltar ist eine der größten Nichtattraktionen dieser Welt. Außer man mag besoffene Engländer in Fußgängerzonen, alte Engländer in Parfümläden, Hektik, Motorroller, Lärm und viel Verkehr.

Am Punta de Europa fotografiere ich die Moschee und will nur noch von dieser Baustelle runter.

Auf dem Rückweg halte ich in La Línea an – beflügelt von der guten Erfahrung bei McD von heute morgen – und kehre bei Burger King ein. Bestelle ein Menü mit irgendeinem Hamburger. Jetzt bin ich wieder geheilt. Ich werde sämtliche Türsteher bei McD oder Burger King beauftragen, mich zu prügeln, wenn ich da jemals wieder rein will.

In San Roque biege ich Richtung Norden ab – erstmalig ins Landesinnere. Irgendwo an der Straße kehre ich nachmittags in ein kleines Lokal ein, bestelle einen Kaffee und sehe die Tapas-Theke. Es ist höflich, den Wirt zu fragen, welche Tapas denn hausgemacht seien und welche er empfehlen könnte. Ich bin höflich und es lohnt sich mal wieder. Bekomme eine Tapa mit irgendwelchen superleckeren, warmen frischen Fischfrikadellen, frischem Brot und meinem ccl ohne c, plaudere nett mit dem Chef des Hauses und zahle zwei Euro zwanzig. Spätestens jetzt merke ich, dass die Touri-Ecke hinter mir liegt. Ich will nicht arrogant wirken und lege fünfzig Cent auf den Tresen, hätte auch gerne zwei Euro hingelegt.

So langsam erscheinen die ersten Hügel und Steigungen. Spanien ist das zweithöchstgelegene Land Europas – nach der Schweiz. Wer in Spanien Rad fahren will, sollte Berge mögen, haben sie im Rad-Forum geschrieben. Bisher war das eher noch locker.

Andalusien ist so schön. Abwechslungsreich. Ich fahre momentan durch Laubwälder – hatte ich bisher noch nicht. Die spärliche Mittelmeer-Sand-Sommer-Vegetation ist abgelöst.

Die ersten weißen Dörfer, direkt an die Berge gebaut, erscheinen im Blickfeld.

Nach Jimena geht’s schon ganz schön hoch.

Ich fahre durch einen Vorort, sehe ein nettes Hostal mit einem netten, älteren Wirt davor, denke an die letzte Nacht, mein Schlafdefizit, mein Kulturdefizit (essenmäßig), mein Duschdefizit und meine schmutzige Wäsche.

“Haben Sie ein Zimmer frei?”

“Siiii!” (Es ist dieses langgezogene, im Tonfall ansteigende, verständnisvolle, freundliche, mitfühlende “Siiii”, was jetzt genau richtig ist)

“Für eine Nacht?”

“Siiii!”

“Mit Abendessen und Frühstück?”

“Siiii!”

Nach dem Duschen und Klamottenwaschen gehe ich runter und frage, ob ich meine Wäsche im Garten aufhängen kann. Überhaupt kein Problem – ich fühle mich zwar nicht wie zuhause, aber irgendwie angekommen, aufgehoben.

Die grüne Gemüsesuppe erinnert mich an die meiner Großmutter. Der Wirt freut sich, das zu hören und versichert, dass er das Gemüse selbst gepflückt hat – hinten im Garten. Ich kann zwischen Fisch und Fleisch als Hauptgang wählen und nehme Fisch mit Patatas a la plancha. Diese leckeren Kartoffeln, die es so nur in Spanien gibt.

Ich genieße das Menü, bin so zufrieden und etwas wehmütig, dass die großen amerikanischen Ketten solche Kulturen wie die hier nach und nach verdrängen werden. Hier steht vor mir eine Flasche Tinto – ich weiß noch gar nicht, wie der Wirt das abrechnen wird – dort musst Du für jedes Ketchup-Tütchen sofort löhnen. Hier das Lachen und Quatschen von Menschen und Familien im Hintergrund – dort MTV-Gedudel. Aber was soll ich sagen? Ich kann’s doch noch genießen – und so lange ich noch durch die Welt radel, werde ich immer solche Orte finden.

Apropos “Radeln”: Mein Idworx-Rad ist klasse. Liebe auf den zweiten Blick sozusagen. Eigentlich wollte ich es gar nicht. Hatte schon abgesagt. Dann doch spontan zugesagt. Dann stand der Karton wochenlang unangetastet im Keller. Und jetzt bin ich glücklich mit dem Rad. Es fühlt sich wesentlich schneller an als der Riese-und-Müller-Trecker. Und es ist auch auf schlechten Wegstrecken erstaunlich komfortabel. Und der Randonneur-Lenker, den ich drangebaut habe, passt wunderbar zu meiner Art zu fahren und zur Charakteristik des Rades. Damit werde ich meine künftigen Reisen unternehmen, mein R+M verkaufen.

Jetzt freue ich mich auf mein Bett und frage den Wirt nach der Rechnung.

“Mañana, mañana.”

Dieses Hostal ist eine gute Entscheidung. Mit dem Rad reisen ist eine gute Entscheidung.

Cada viaje es una vida. Cada vida es un viaje.

2 thoughts on “5. April 2011: Kulturvergleich

  1. Stan

    Hallo Jörg, ich habe selten einen so tollen Bericht gelesen, dazu noch die Bilder. Mein Fernweh per Rad ist auf´s neue geweckt.
    Stan

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  2. Jürgen

    Hallo Jörg,
    es macht mir Freude in Deinen Sätzen immer etwas Neues und doch alt vertrautes zu entdecken.
    Hast Du die Berichte schon unterwegs geschrieben oder erfreust Du dich jetzt täglich am erlebten?

    Herzlichen Gruss und ein großes Danke für den Hinweis auf die „Pyramide“. schmunzel
    Jürgen
    ps: lass dir den Buchtitel schützen, der ist richtig gut

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