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30. November 2011 – Streetphotography, Zeitverschwendung, Busfahrt

Irgendwie wird in diesem Hotel nachts gebaut. Bis zwei Uhr morgens ist hier eine Lautstärke, dass ich selbst mit Ohropax zu viel zum Schlafen mitkriege. Dazu kommt, dass ich einen schwarzen Tee getrunken habe. So gegen zwanzig Uhr. Der wirkt. Aber irgendwann schlafe ich doch ein…

Ich wache auf und Karla sitzt schon seit einer Stunde am Fenster und schaut dem Treiben rund um den Busbahnhof zu. Das ist wie Fernsehgucken.

Ruhetag. Ruhetag? Die Busse haben alle ganz tolle Hupen und laute Dieselmotoren. Eine sehr lebendige Geräuschkulisse.

Nach einem ausgiebigen Frühstück können wir Räder und Gepäck im Hotel lassen. Toller Service, freundliche Menschen.

Karla und ich trennen uns bis achtzehn Uhr, um einfach mal jeweils auf eigene Faust durch die Stadt zu schlendern und zu beobachten. In Errachidia laufen einige Frauen ohne Kopftücher herum und so halten Karla und ich das Risiko für sie für gering.

Ich will mich heute mal an der sogenannten “Straßenfotografie” versuchen – also einfach nur Szenen festzuhalten: Ohne Inszenierung, ohne Regie, ohne Gestaltung, ohne Mehrfachversuche, ohne Ausprobieren. Einfach nur “Point and Shoot”, wie die Amerikaner das nennen.

Als erstes gehe ich zum Basar.

Ich halte die Kamera verdeckt und schieße aus der Hüfte – im wahrsten Sinne des Wortes. Mit der kleinen Oly und dem zwanziger Pancake geht das gut. Der Ausschuss ist erwartungsgemäß hoch, ein paar interessante Szenen sind allerdings doch dabei.

Gegen zwei Uhr nachmittags ist das Basarleben dann doch ziemlich eingeschlafen. Wahrscheinlich geht’s erst um sieben wieder weiter. In einem Internet-Café schaue ich meine Mails durch, bedanke mich für die Glückwünsche zum Geburtstag und genieße einen marokkanischen Kaffee. Und ein frisches Schoko-Croissant. Lecker – auf dem Land gibt’s in der Regel nur Fladenbrot oder verpackte Küchlein.

So. Jetzt habe ich noch drei Stunden Zeit und die Stadt bietet nichts mehr. Was hat ein richtiger, effizienzgetrimmter Deutscher jetzt? Richtig. Ein schlechtes Gewissen. Hinsetzen und nichts tun? Zeitverschwendung. Was sollen bloß die anderen denken? Die anderen? Hier in Marokko? Die “verschwenden” den halben Tag lang Zeit. Tun sie das? Ich probier’s mal. Ich fange jetzt und hier an, Zeit zu verschwenden. Erst mal drei Stunden. Im Café unseres Hotels bestelle ich einen Tee und fühle in mich rein. Noch bevor ich so richtig in mir bin, streiten sich vor mir zwei Araber. Spannend. Zehn Minuten immer wieder die gleichen Töne, Gesten, Mimiken. Ziemlich theatralisch, aber nie so richtig final aggressiv. Als die Männer weg sind, stellt die Bedienung ein Tablett mit einer Teekanne und zwei Gläsern auf meinen Nachbartisch, obwohl dort niemand dran sitzt. Eine alte Frau kommt, nimmt das Tablett und setzt sich auf einen Steinhaufen neben dem Hotel. Sie beginnt die Tee-Zeremonie allein und für sich im Staub. Es scheint, dass sie sich als Frau nicht allein an einen Tisch in einem Café setzen darf. Im gleichen Moment fährt ein junges Mädel mit wehendem Haar auf einem Motorroller an unserer Szene vorbei. Zwei Frauen – eine Kultur. Kultur scheint dynamisch zu sein. In zwanzig Jahren muss sich auch hier keine Frau mehr zum Teetrinken in den Staub setzen.

Ich kann meine Zeit einfach nicht verschwenden. Wenn ich das nicht kann, wer könnte es? Was ist das überhaupt?

Verschwendung hat was mit Opportunität zu tun. Verschwendete Zeit ist die Zeit des Lebens, die anders nützlicher eingesetzt werden könnte. Zeit zu empfinden bedeutet aber zu sein. Ohne dass man ist, kann man keine Zeit empfinden. Das würde ja bedeuten, dass man sein “Sein” phasenweise verschwenden würde. Sich selbst sozusagen. Kann ich “Tun” von “Sein” gänzlich trennen? Nein. Selbst “Sein” bedeutet doch im Zeitverlauf “Tun”. Es gibt nichts Nützlicheres als zu sein. Das Problem mit dem Verschwenden des Seins beginnt mit dem Wollen, Sollen und Können. Und den Diskrepanzen zwischen diesen Begriffen. Und dann noch mit der Wirklichkeit. Denn es kommt doch nicht darauf an, WAS wir erleben sondern eher WIE wir erleben. Das was der eine als trivial, langweilig, öde empfindet – nämlich einer alten Frau beim Teetrinken zuzuschauen – empfindet die andere als spannend, bemerkenswert und inspirierend. Für den einen ist es Zeitverschwendung, für die andere Geisteserweiterung. Das heißt doch auch gleichermaßen, dass nicht das Erleben eines Ereignisses selbst den geistigen Reichtum ausmacht sondern das Auffassen und Interpretieren des Erlebten. Das mal zu ende zu denken wäre Thema der nächsten Zeitverschwendung.

Jetzt kommt Karla zurück und hat schlechte Laune.

Nicht das “Frau sein” machte ihr heute wohl das Leben schwer sondern das “westliche Frau sein”. Ständig wurde sie bedrängt, angesprochen, ausgelacht. Sie ist mittelprächtig desillusioniert. Wenigstens kann sie ihren Tee mit mir am Tisch trinken.

Wir packen unsere Sachen, holen die Räder aus dem Hotel und schieben zum Busbahnhof.

Der Mann, bei dem wir heute morgen die Tickets für 360 Dirham kauften, erkennt uns wieder und sagt, wir sollten uns bereit halten. Punkt sieben kommt er und führt uns vom Busbahnhof weg in irgendeine Straße. Mir wird ein wenig mulmig. Aber kurz darauf taucht ein großer Reisebus auf und hält direkt vor uns.

Das Gepäckabteil ist schon voll – da sollen aber unsere Räder jetzt noch mit rein. Das passt doch nie! Der Mann, der sich als Packer identifiziert (ein Kumpel vom Ticketverkäufer), legt mein Rad direkt neben den riesigen Wagenheber, der natürlich nicht gegen verrutschen gesichert ist. Diese Funktion übernimmt nun mein Rad im Zusammenspiel mit dem restlichen Gepäck. Karlas Rad kommt obendrauf. Passt nicht. Wieder raus, Vorderrad ausbauen, nochmal. Ruckeln, rütteln, hinundherschieben – passt. Ich darf nicht hinschauen. Der Buspacker will jetzt 70 Dirham zusätzlich. Mindestens fünfzehn weitere Menschen schieben ihre Gepäckstücke auch noch mit rein. Ich leite einen mittleren Kontrollverlust ein. Jetzt äußert Karla Bedenken wegen ihrer Vorderradgabel. Berechtigt. Gut, dass ich vorhin so intensiv über das Sein an sich nachgedacht habe. Die Räder sind drin, die Klappe geht nie und nimmer zu! Ich werde in den Bus gewiesen. Er ist voll. Ziemlich voll. Nur noch Einzelplätze frei. Ein einigermaßen ruhig und sympathisch aussehender Mann zeigt an, dass der Platz neben ihm frei ist. Ich setze mich. Karla muss ausgerechnet jetzt nochmal aufs Klo. Ich bin ganz ruhig und bei mir. Rechts unter mir stehen noch zehn Männer vor der offenen Gepäckklappe und streiten. Ich weiß ja seit meiner Zeitverschwendung von heute Nachmittag, wie das endet: Irgendwie, Insch’Allah. Karla kommt rein, die Klappe geht zu, der Bus hupt ein paarmal und fährt los. Der Buspacker kommt, gibt mir 50 Dirham Wechselgeld. Ich verspreche ihm die fünfzig, wenn die Räder heil in Nador ankommen. Schon in Rich, eine Stunde später, will er die fünfzig haben. Ich gebe sie ihm, vertraue ihm und weiß, dass ich nie ein guter Händler sein werde. Aber vertrauende Menschen sind glücklicher als misstrauende. Statistisch. Und ich glaube an Statistik, weil ich in dieser mathematischen Teildisziplin immer sehr gut war.

Die Geräuschkulisse im Bus ist interessant, die Geruchskulisse atemberaubend.

Drei Männer sitzen auf den Treppenstufen der hinteren Tür. Karla hat eine beleibte Frau mit komplettem Wocheneinkauf vom Markt in Errachidia neben sich. Karla ist schlecht und die Frau neben ihr gibt auch keine guten Geräusche von sich. Na ja – es ist jetzt einundzwanzig Uhr. Nur noch siebeneinhalb Stunden bis Nador. Ein Kind beginnt zu schreien. Ich stecke mir jetzt die Ohrhörer meines Telefons rein und höre K.I.Z. Haben mir meine Jungs aufgespielt. Ich überlege mir, deren Texte auf arabisch zu übersetzen und über den Buslautsprecher abzuspielen. Käme sicher gut, gäbe eine hochwertige Thermik hier. Der Mann neben mir riecht ziemlich streng. Er ist müde und gähnt immer wieder. Das Mobiltelefon der Alten neben Karla klingelt in voller Lautstärke. Das offensichtliche Oberhaupt einer Berber-Familie weiß nicht, welchen Knopf sie drücken soll und gibt das plärrende Teil zwei Reihen weiter an ihren Mann. Der drückt und gibt’s zurück. Sie schreit ihr Telefon an, unter ihren ausgestreckten Armen entfaltet sich ein odorantes Erlebnis besonderer Art. Jetzt klingelt das Telefon meines Nachbarn. Ich stöpsle mich jetzt mit Ohropax zu und versuche, meinem “Sein” an sich nachzugehen. Das Telefon der Alten geht alle zwanzig Minuten. Immer noch in voller Lautstärke. Die Jungs hinter mir lassen ihre orientalische Musik über die eingebauten Lautstärker ihrer Telefone laufen. Ich versuche, die einzelnen Instrumente dieser Musik zu identifizieren. Lasse es nach zwei Minuten. Merke, dass diese Busfahrt die Leistungsgrenzen der Ohropax auslotet. Der Mann neben mir ist eingeschlafen und fällt zu mir rüber. Ich versuche, ihm den Rücken zuzudrehen und stelle meine Füße in den Gang. Dabei trete ich aus versehen auf einen der Männer, die vorhin noch auf den Treppenstufen zum Abgang saßen. Plötzlich hält der Bus. Es ist irgendwo zwischen elf und halb zwölf. Rauch- und Pinkelpause. Die Insassen, die von hinten her raus wollen, treten den Mann im Gang unsanft – üblicher Umgang hier?

Vor dem Klo der Tankstelle, an der wir halten, haben sich lange Schlangen gebildet. Einige Männer stehen im Feld neben der Straße und düngen die Erde. Ich spüre in mich rein, ob ich auch mal muss. Tue ich zwar nicht, aber der Bus hat keine Toilette und wer weiß wann der mal wieder hält. Also stelle ich mich auch aufs Feld und versuche eine intendierte Entleerung. Ungewohnt, anstrengend, aber erfolgreich.

Als der Bus wieder losfährt, ist der Platz neben mir frei. Karla setzt sich schnell neben mich.

So langsam wird es etwas leiser in der Kiste. Aber auch kälter. Wir fahren über den Atlas und Heizungen sind in den Autos hier wohl nicht vorgesehen. Die Dachluken, die vorhin noch einen Spalt geöffnet waren, sind jetzt zu. Keine schönen Aussichten für eine empfindliche Nase…

29. November 2011 – Prügel und Steine

Ach Menschenskinder, was echt nervt, ist die Tatsache, dass wir hier von den meisten Menschen als Quelle für Geld, Zigaretten oder Medikamente gesehen werden. Wir sind gerade mit Frühstück und Packen fertig und wollen losfahren, da kommt ein alter Mann auf einem Esel an uns vorbei. Er grüßt freundlich, gibt uns beiden die Hand.

Dann fragt er nach Geld.

Wir lehnen ab: “Non, pardon.”

Ich schwinge mich auf’s Rad und will los.

Da reitet er Karla in den Weg, Karla weicht aus, er dirigiert seinen Esel mit dem Stock wieder in Karlas Weg.

Als er wütend den Stock in Karlas Richtung erhebt und kurz davor ist, sie zu schlagen, stelle ich mich zwischen die beiden und sage laut und energisch: “Monsieur! NON!” und setze den bösesten Karate-Kumite-Gegner-Einschüchterungsblick auf, den ich habe.

Es wirkt.

Der Alte dreht ab.

Diese Szene zeigt, welchen Wert Frauen hier haben – egal ob arabische oder westliche. Sie dürfen geschlagen werden. Erst wenn ein anderer Mann seinen “Besitzanspruch” verdeutlicht, wird akzeptiert, dass ein anderer das Prügelrecht hat.

Karla ist natürlich total frustriert und ein wenig eingeschüchtert. Kein Wunder: Zuhause ist sie Wissenschaftlerin und forscht nach neuen Medikamenten, ist neben der eigenen Verwirklichung im akademischen Umfeld auch für die Gesellschaft von Bedeutung. Und hier? All das gilt nicht – als Frau wird Dein Wert anders bemessen. Jungs dürfen Frauen mit Steinen bewerfen, Greise sie mit Stöcken schlagen. Und das in meinem Beisein – als hätten sie mit meinem Einverständnis gerechnet…

Damit wird mir nochmal deutlich, welche Verantwortung ich für Karla habe – ob ich oder sie will oder nicht.

Ich kann jedem Mann-Frau-Paar, das ein muslimisches Land bereist, nur dringendst empfehlen, die Kultur hier scheinbar zu akzeptieren – mit allen Konsequenzen: Aussehen, Kleidung, Verhalten. Die Frau ist “Besitz” und gegen andere Männer als solcher zu verteidigen.

Wir können das finden wie wir wollen.

Es wäre ein Stück weit arrogant gegenüber der Gastgeberkultur und fahrlässig gegenüber der Reise-Partnerin, es nicht zu tun.

Ich spreche hier nicht von Reisenden, die in Reisebussen oder Mietwagen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hüpfen.

Auf dem Weg durch das Ziz-Tal fotografiere ich und Karla fährt voraus. An einem Parkplatz sehe ich sie dann sitzen – mit einem Araber neben sich. Ich denke schon wieder an das typische Touri-Anbaggern, aber Karlas Gesicht ist ganz freundlich. Der Mann, mit dem sie redet, ist wieder das ganze Gegenteil dieser aufdringlichen Händler und Bettler: Ein gastfreundlicher Mensch, der zwar seine Fossilien hier anbietet, aber nicht aktiv. Er hat Interesse an uns. An unserer Tour, unserer Ausrüstung, meinen Kindern – er hat auch zwei ältere Jungs und eine kleine Tochter – wie ich. Wir quatschen rund zehn Minuten und er würde uns gern seine Tochter vorstellen – ganz stolz ist er. Und findet es schade, dass wir keine Zeit für einen Tee in seinem Haus haben. Ich schaue mir seine Fossilien an und suche mir einige Mitbringsel für zuhause aus. So macht das ja auch Spaß. Karla kauft für ihren Freund – ein Geologe – einen Ammoniten, der richtig gut aussieht.

Wir fahren weiter – teils durch beißenden Gestank, weil hier im Tal momentan überall alte Dattelzweige verbrannt werden. Häufig wird der ganze Plastikmüll, der immer mehr wird, gleich mit ins Feuer geworfen. Die großen Marken-Multis – allen voran Coca-Cola und Danone – haben bereits verheerende Spuren hinterlassen. Sie überfluten ein Land mit ihren Produkten und damit Verpackungen, obwohl noch überhaupt keine Infrastruktur für die Entsorgung existiert. Die Menschen sind es gewohnt, mit eigenen Tüten und Flaschen einzukaufen. Das fällt jetzt alles weg. Der Verpackungsmüll landet fast immer in der Landschaft oder auf Straßen und Plätzen der Städte und Dörfer.

Landschaftlich ist das Ziz-Tal wunderschön. Unsere Straße führt am Talrand bergauf zu einem Hochplateau, auf dem ich sehen kann, dass das Tal wie mit einem Messer (zugegeben: Mit dem Messerrücken) in die Erde geritzt scheint.

In Meski, an den Sources Bleues, werden wir wieder angebaggert. Wir sind beide genervt und reagieren schon abweisend, wenn einer nur “Ca va?” fragt. Ich will einfach nix mehr gefragt werden. Nicht wie ich heiße, nicht wie’s mir geht, nicht ob ich Deutscher, Franzose oder Engländer bin – gar nichts mehr! Frei nach Loriot: “Ich will doch nur hier sitzen!”

Das geht aber nicht.

Die Menschen in den Touristenbezirken sind so aufdringlich und ich bin so angesäuert, dass ich an die Moskitos in Alaska denken muss. Wenn Du anhältst, kommen sie um Dich anzuzapfen und wenn Du einen verjagt hast, kommen gleich zwei neue.

Ich bin zwiegespalten – muss aufpassen, dass meine Ablehnung nicht jedem entgegenschlägt. Aber der Schwarze, der uns gerade bedrängt, will uns ja “nur” auf einen Tee in sein Haus einladen – “nur” reden. Ich sage zu ihm: “Nur Tee trinken – wir kaufen nichts, ich zahle für den Tee!” Ein letzter Versuch, einen solchen Typen ernst zu nehmen. Natürlich funktioniert das nicht. In seinem Haus zeigt er uns seine Billigware und sagt in gebrochenem Deutsch: “Nix kaufen, nur tauschen: Medizin, T-Shirts, kurze Hosen.” Sapperlot – es kotzt mich an. Wir kramen unsere Aspirins zusammen und tauschen sie gegen ein billiges Turban-Tuch, um unsere Ruhe zu haben.

Meine Lust, die blauen Quellen zu fotografieren, ist bei Null. Und das will was heißen.

Ich habe ein für allemal gelernt: Ich lasse mich hier von niemandem mehr anquatschen, werde alle Fragen ignorieren und Penetranz ganz harsch abbürsten – so wie heute morgen den Alten.

Andererseits: Dann hätten wir die Kasbah vorvorgestern nicht kennen gelernt.

Der Weg nach Errachidia ist unspektakulär und verkehrsreich. Für Radfahrer haben sie hier sogar eigene Fahrspuren eingerichtet – was für ein Luxus. Leider interessieren sich die marokkanischen Autofahrer für die Verkehrszeichen hier genauso wie ich mich zuhause als Fußgänger nachts um drei für eine rote Fußgängerampel über eine leere Straße.

Ein Radfahrer, den wir überholen, noch freundlich grüßen, fragt, woher wir kämen. Karla und ich beschleunigen auf 30 km/h, es geht leicht bergauf – der Baggerer in unserem Windschatten versucht, dranzubleiben. Was er ruft, verstehe ich nicht, ist mir auch egal. Nach zirka zwanzig Sekunden muss er abreißen lassen.

Kurz darauf überholen wir eine Horde Schulkinder auf ihren Rädern. Als wir so zirka 30 Meter vor ihnen sind, höre ich einen Stein hinter mir auf die Erde springen. Ich drehe mich um, die Jungs lachen. Ich bremse, setze mein Braungurt-Kampfgrimmen auf, hebe den Finger und rufe laut: “Hey! Attentión!” Die Jungs sind verschreckt und bremsen sofort ab.

Auch wenn es etwas Bedrohliches hat, für mich ist das Verhalten der steinewerfenden Kinder wie ein Spiel: Die Kinder selbst werden – wie Ziegen und Schafe – von Jugendlichen und Erwachsenen mit Steinwürfen vertrieben, wenn sie nerven. Die Würfe sind aber immer auf den Boden gerichtet, bisher nie in Richtung Körper oder gar Kopf – so dass ich Angst gehabt hätte, getroffen zu werden. Ich konnte das selbst beobachten auf einem Platz in Meski. Dennoch bin ich vorsichtig genug und zeige den Jungs Härte. Ich würde auch absteigen, einen Stein nehmen und ausholen. Werfen jedoch würde ich nie. Mal sehen, was noch kommt.

Errachidia selbst ist Provinzhauptstadt und Verkehrsknotenpunkt. Wir nehmen uns ein Hotel direkt neben dem Busbahnhof und wollen morgen hoch ans Mittelmeer fahren. Der Bus fährt erst um halb acht abends ab und dann rund neun Stunden. Das heißt: um halb fünf morgens in Nador. Was für Aussichten…

28. November 2011 – Geburtstag

Mein 50ster Geburtstag beginnt mit einem Küchlein mit Kerze in “le gout du sahara”. Karla hat das Frühstück vorbereitet und ich freue mich über den Glückwunsch, die Situation und den ungewöhnlichsten Ort, an dem ich je Geburtstag hatte. Klein, fein, herzlich. Es passt alles.

Hamad hat Kopfschmerzen, er kriegt eine Aspirin von mir. Ich lade ihn ein, mitzufrühstücken. Er lehnt dankend ab, frühstückt ausschließlich Kaffee und Zigaretten. Um zehn gibt’s immer Datteln und Milch. Das sei gut für ihn, sagt er. Und hustet.

Der Abschied ist herzlich – ich werde wiederkommen. “in scha’ Allah!” “as-salamu ‘alaikum!”

Wir nehmen die Piste durch die Wüste, wollen nochmal ganz nah ran an die Dünen. Als wir anhalten, um uns zu orientieren, kommt ein Junge auf einem Fahrrad von irgendwoher auf uns zu. Ich lerne eine neue Masche kennen, Touristen um Geld zu erleichtern:

Er fragt mich, ob ich ihm einen Euro in zehn Dirham wechseln könne – schließlich könne ich doch mit dem Euro in Europa mehr anfangen als er hier in Marokko. Mir leuchtet das ein und ich nehme den Euro, gebe ihm zehn Dirham. Sofort greift er in eine seiner Taschen und zieht diverse Schlüsselanhänger, Fossilsteine und Lederbänder hervor. “un euro à la pièce!” ruft er. Ich kapiere und lehne ab. Er insistiert und will, dass ich seiner Familie helfe, indem ich ihm ein Teil abkaufe. Ich lehne nochmal ab und fahre weiter. Um einen Euro reicher, zehn Dirham ärmer. Im Nachhinein hat das keinem von uns beiden geholfen.

Nach 15 Kilometern ist uns das Gerüttel durch die Bodenwellen dieser Piste doch etwas zu viel und wir fahren in Richtung Straße.

Zurück in Rissani setzen wir uns nochmal an den Platz von gestern, essen Omelett und Orangen, trinken Tee mit frischen Minzblättern und schauen dem Treiben zu.

Der Rest des Tages ist Genussradeln pur: Sonne pur, 20 Grad, windstill. Wir wollen’s kaum glauben. Dieses Land, das uns seine Ablehnung durch sein Wetter bisher deutlich zu spüren gegeben hat, zeigt sich heute von seiner schönsten Seite.

Allerdings merken wir auf einer Straße hinter Rissani Richtung Norden, dass die Kanalisation hier mit den Wassermassen der letzten Tage überfordert ist. Die Straße ist überflutet und die Autos versinken bis zu den Radachsen im Wasser. Ich kalkuliere und fahre durch die Riesenpfütze. Dabei halte ich die Kurbeln immer waagerecht, den linken Fuß vorne. Den trete ich immer nur ein kleines Stück nach unten – bis zur Wasseroberfläche und hole ihn dann wieder soweit zurück, bis der rechte Fuß hinten fast die Wasseroberfläche berührt. Karla traut dieser Methode nicht und schiebt ihr Rad durch den Lehm-Matsch am Straßenrand. Als wir uns hinter der Straßenflutung treffen, säubern wir ihr Rad zwischen Laufrädern und Schutzblechen mit kleinen Stöckchen, damit die Räder wieder frei rollen können.

Am Ziz, zwischen Arfoud und Meksi schlagen wir unser Zelt auf. Es ist jetzt, am Abend, empfindlich kalt geworden: Wir liegen mit kalten Füßen in klammen Schlafsäcken.

Wir haben ein komisches Gefühl der Vorsicht, da uns ein paar Kinder und Jugendliche beim Zeltbau beobachtet haben. Außerdem haben wir uns offensichtlich eine Stelle ausgesucht, an der hin und wieder Arbeiter auf dem Weg von den Dattelplantagen nach Hause vorbeikommen. Aber hier scheint sich niemand darum zu kümmern, wenn ein Zelt aufgeschlagen wird. Warum auch? Schließlich gehört das Nomadentum mit zur Kultur der Berber.

27. November 2011 – Erg Chebbi

Sieben Uhr, die Sonne scheint. Endlich mal wieder. Ich springe aus dem Zelt, den Fotoapparat in der Hand – das wird ein schönes Bild.

Wir packen schnell zusammen, da das Wasser nicht für ein ausgiebiges Frühstück reicht. Rissani ist dann auch schnell erreicht – ohne Wind radelt es sich wunderbar.

Im Ort selbst staunen wir über das hiesige Markttreiben. Ein Chaos, das sich selbst beherrscht. In den engen Straßen und Gassen ist alles voller Marktstände. Ein wuseliges Leben, ein lebendiges Gewusel. Die Geräuschkulisse erinnert mich an das Warmspielen eines großen Orchesters vor einem bedeutenden Konzert. Menschen rufen, verhandeln, streiten, lachen. Trecker, Laster, Mofas, Autos brummen. Esel, Hühner, Ziegen, Schafe plärren. Es riecht nach Obst, Kräutern, Gewürzen, Mist, Abgasen und Tieren.

Karla und ich lassen uns auf das Ganze ein und schieben unsere Räder durch den Matsch, den der Regen der letzten Tage hinterlassen hat. Wir kaufen Nüsse und Obst und in einer Bäckerei frisches, warmes Brot.

An einem der etwas größeren Plätze setzen wir uns an einen Tisch, bestellen Tee und Omelett und beobachten die Szenen dieser Stadt. Wer meint, dass man bei Kaffee oder Eis am Ernst-August-Platz in Hannover gut Leute beobachten kann und dass das dann interessant sei, sollte mal einen Tee vor einem Restaurant in Rissani trinken.

Nach rund einer Stunde geht’s weiter Richtung Süden, Richtung Merzouga und Erg Chebbi. Endlich mal wieder Rückenwind! Mit einem dreißiger Schnitt sind wir nach gut einer Stunde in Merzouga. Links von uns können wir schon die hohen Dünen sehen, die aus der Wüste bis hierher gewandert sind.

Wir haben Lust auf einen nur kurzen Radtag heute, also suchen und finden wir eine Pension. Im Speisesaal steht eine Wüsten-Enduro, so ein großes geländegängiges Motorrad mit Stollen an den Reifen, die so groß sind wie die riesigen Zuckerstücke, die uns hier immer in den Tee geworfen werden.

Das Ding gehört einem Italiener, der schon eine Woche hier wohnt und ausgedehnte Touren in die Wüste unternimmt.

Hamad, der Chef des Hauses selbst ist total nett, spricht ein wenig deutsch und lässt uns das Doppelzimmer für 80 Dirham, was rund acht Euro sind.

Zum Kochen können wir die Küche des Hauses benutzen, im Garten das nasse Zelt zum Trocknen aufstellen. Als ich im Garten meine Wäscheleine spanne, bietet er mir sofort an, dass seine Frau meine Wäsche waschen und aufhängen könnte. Ich lehne freundlich ab mit dem Hinweis, dass ich ja sowieso schon fertig wäre.

Hamad fragt mich, ob ich das selbst machen würde. Als ich bejahe, fragt er, ob ich keine “Fatima” hätte und – mit einem leichten Kopfnicken in Richtung Karla – warum sie das nicht machen würde. Ich versuche zu erklären, dass wir eine praktikable Arbeitsteilung vereinbart haben – jeder kümmert sich um sein eigenes Zeugs – und dass das schon völlig in Ordnung sei. Es sorgt dafür, dass nichts vergessen wird und dass wir beide in der Regel schnell und gleichzeitig fertig wären. Darüber hat Hamad bisher noch nicht nachgedacht, aber es leuchtet ihm ein.

Das Zimmer war wohl früher mal ein Stall, es ist “erdig”, aber nicht schmuddelig-dreckig. Kaum zu beschreiben. Ein ziemlich großer schwarzer Mistkäfer krabbelt unter meinem Bett hervor. Karla sagt, dass das eine ziemliche Sauerei auf dem Teppich gäbe, wenn ich da jetzt drauftreten würde. Will ich ja sowieso nicht, also nehme ich ihn und setze ihn vor die Tür. Es hält sich ja das Gerücht, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens statistisch fünf Spinnen verspeist, ohne es zu wissen. Die sollen nachts in unsere Münder krabbeln und wir schlucken sie dann runter. Wir glauben nicht an dieses Gerücht und lassen die Spinnen über unseren Betten in Ruhe.

Damit es einladend wirkt, legt Hamad noch ein Ziegenfell vor den “Sanitärbereich”. Damit die Dusche warm wird, muss Hamad erst im Nachbarhaus irgendeinen Schalter oder ein Ventil oder sonstwas betätigen. Karla duscht kalt, ich warm.

Gegen drei Uhr nachmittags gehen wir zu den Dünen des Erg Chebbi – ein großartiges Panorama bietet sich uns. Wir sind am Tor zur Sahara angekommen.

Festgebundene Kamele und achtlos weggeworfener Müll deuten darauf hin, dass die Marokkaner es mit dem Umwelt- und Naturschutz nicht so genau nehmen, dass sie ihre Prioritäten (noch) anders setzen. Und dass wir uns in einem Touristengebiet befinden. Uns wird eine “Expedition mit Kamelen” angeboten, was wir dankend ablehnen. Einige der armen Viecher zeigen extreme Vernarbungen an den Stellen, wo der Sattel aufliegt und wo sie eingezäumt werden. Jeder, der sich auf so ein gezeichnetes Tier setzt und den Kamelbesitzern somit Geld gibt, sollte sich bewusst sein, dass er aktive Tierquälerei betreibt. Aber auch hier gilt: Andere Kulturen, andere Wertvorstellungen. Letztlich betreiben wir bei uns in Europa mit unserem Einkaufsverhalten Tierquälerei in noch viel stärkerem Ausmaß, wenn wir bei Aldi oder Lidl ein Kilo Schweinefleisch für unter fünf Euro oder Eier für sieben Cent das Stück kaufen. Wir sehen die armen Viecher, die wir essen nur nicht, da sie bewusst ganz weit weggesperrt werden. Wir sollen sie wohl auch gar nicht sehen.

Aber ich lasse mich jetzt und hier wieder von der Wüstenszene einfangen und beginne, zu genießen.

Die Sonne hat den Sand aufgewärmt, so dass wir barfuß wandern können – ein belebendes und archaisches Gefühl. Ich packe meine Kamera mal wieder aus und bin von den Motiven, den Formen und dem warmen Wüstenlicht total begeistert. Fotografieren ist malen mit Licht.

Als wir in unserem Zimmer liegen, frage ich Karla (sie ist Biologin) nochmal vorsichtshalber, ob Mistkäfer auch an Wänden hoch- und in Schlafsäcke reinkrabbeln können. Hoch kämen sie nicht, sagt sie. Dafür seien sie zu schwer. Aber morgen früh sollten wir vorsichtshalber in unsere Schuhe schauen, bevor wir sie anziehen.

26. November 2011 – Regen, Sturm, Fossil-Museum

Um sieben werden wir durch den Krach der Zimmernachbarn geweckt. Es ist kalt, windig, regnerisch. Das Frühstück lockt höchstens ein paar Spatzen an, die durch die offenen Fenster kommen und fliegen. Nicht mal die Wäsche ist über Nacht getrocknet. Also: Super-Radtag heute.

Natürlich ist der Wind wieder gegen uns, heute aber richtig. Mittags beginnt es zu regnen. Und zu stürmen. Diesmal prasselt nicht der Sand sondern der Regen ins Gesicht. Der Schmerz ist der gleiche, die Sicht auch. Karla haut’s wieder fast in den Graben. Wir kämpfen uns Meter für Meter voran – eine Unterstellmöglichkeit gibt es weit und breit nicht. Noch nichtmal Schutz vor dem Wind.

So ungefähr eine halbe Stunde geht das in dieser Heftigkeit. Als das Schlimmste vorüber ist, halten wir an einem “Fossil-Museum”, um windgeschützt zu verschnaufen. Ich wundere mich darüber, dass das einzige Gebäude weit und breit ein Museum ist.

Bei näherem Hinsehen ist das natürlich kein Museum. Oder vielleicht doch: Eins, dessen Exponate man kaufen kann. Die Fossil-Suche scheint ziemlich viele Touristen anzuziehen – habe jetzt schon öfter entsprechende Hinweise auf Fossil-Gebiete, Fossil-Hotels, Fossil-Exkursionen, Fossil-Suchen und jetzt das Fossil-Museum gesehen.

Neben dem Museum bietet ein Dach Unterschlupf und Schutz vor Wind und Wetter. Wir sind nicht die ersten, die das nutzen. Einer der anderen ist ein einheimischer Reiseradler. Er hat nichts weiter als sein Fahrrad. Alles was er besitzt, ist daran befestigt. Das Rad selbst ist ein Unikum. Wir verstehen uns zwar verbal nicht, aber es entsteht eine lustige Unterhaltung. Einer der anderen Männer spricht gut spanisch und übersetzt. Und interpretiert: Der Alte hat weder Frau noch Haus noch Kinder noch Vieh – da kann er es sich leisten, durch die Gegend zu fahren.

Der Museumsbetreiber läd uns zu einer Tasse Tee ins Museum ein, was wir – ausgekühlt und fröstelnd – gerne annehmen.

Ammoniten gibt’s hier hundertfach. Sogar Dinosaurierzähne hätten sie schon gefunden, sagt der Marokkaner. Nach einer halben Stunde Tee-Zeremonie und wildestem Kauderwelsch kaufe ich noch ein paar Mitbringsel für meine beiden Jungs – auch, um etwas Geld dazulassen. Denn wenn man zum Tee eingeladen wird, sind die Gastgeber beleidigt, wenn man das bezahlen will.

Jetzt kommt noch ein kleiner Junge ins Museum – er gehört irgendwie mit zur Familie. Ihm gebe ich einen Lutscher, den ich in der Lenkertasche habe. Jetzt freuen sich alle.

Wir sind aufgewärmt, wieder einigermaßen angetrocknet und fahren weiter.

Da ich unterwegs mal wieder ein paar Bilder schieße, fährt Karla vor und wartet vor einem Dorf auf mich. Damit ist sie wieder ein Magnet für die spielenden Kinder. Kinder? Jungs!

Die Jungs bedrängen Karla, sie reißen ihr das Brot vom Gepäckträger. Auch danach sind sie weiterhin sehr aggressiv. Heute morgen hatten einige Jungs schon mit Steinen nach ihr geworfen. Ich selbst ignoriere diese Banden mittlerweile schon. Sie sind lästig, aber nach mir warfen sie bisher noch nicht. Als ich Karla vorschlage, nicht in Sichtweite von Dörfern zu halten um auf mich zu warten, reagiert sie frustriert und gereizt. Ich kann das verstehen. Aber ich kann mich auch in die Lage der Jungs in deren Kultur versetzen – ohne dass ich das tolerieren will. Wir als Gäste können das werten wie wir wollen – ändern können wir diese Realität hier und jetzt nicht. Frust und Ärger helfen da nicht weiter. Frauen haben hier nicht nur einen niedrigeren Rang als Männer sondern offensichtlich in einigen Regionen sogar einen noch niedrigeren als Jungen.

Um fünf Uhr nachmittags wird es ziemlich düster. Wir sind zwanzig Kilometer vor Rissani und bauen unser Zelt mitten im Nirgendwo auf.

Da es kalt und ungemütlich ist, muss heute die Drei-Feuchttücher-Hygiene reichen. Zum Kochen reicht das Wasser nicht mehr, wir teilen uns mein Brot, einige Datteln und Erdnüsse. Ich beiße hin und wieder in eine Chili-Schote, damit mir warm wird.

Um sieben legen wir uns hin, ich höre noch etwas Musik und schlafe ein.

25. November 2011 – “Silou! Silou!”

Wir haben ein tolles Frühstück: Frisch gepresster Orangensaft, Eier, Käse, Butter, Feigen, Marmelade und frische Blätterteig-Omeletts. Das alles passt wunderbar in das Gesamtkonzept dieses Hotels. Wenn ich irgendwann mal aussteigen sollte und ein Buch schreiben wollte, würde ich mich genau hier für ein paar Monate einquartieren. Aber: Wir wollen weiter.

Unsere Gastgeber verabschieden uns herzlich, ich gebe ihnen ein großzügiges Trinkgeld.

Die Sonne scheint wieder, der Wind hat sich beruhigt und es rollt gut. Gegen zehn frischt er aber wieder auf – der unsichtbare Gegner. Das heißt: Hier ist er sichtbar, wenn sich in der Ferne Sandwolken um sich selbst drehen wie Eiskunstläufer bei Olympia. Die Landschaft in Richtung Tazzarine und Alnif vermittelt weiterhin Weite bis zum Horizont. Rechts und links Berge, von denen die höchsten im Norden mit frischem Schnee bedeckt sind. Grandioses Panorama. Einzig mein Darm grummelt ein wenig – letzte Nacht hatte ich Durchfall. Wahrscheinlich vom frischen Koriander, der das Abendessen garnierte. Eine Immodium-Tablette hilft, dass ich das Frühstück bei mir behalte.

Der Wind bläst uns kalt entgegen – wir ziehen uns warm an. Im Norden sind wieder Regen- und Gewitterwolken zu sehen, die uns Sorgen machen. Zumal der Wind aus Norden kommt, wir in Richtung Norden fahren und es keine Möglichkeit gibt, abzubiegen. In den kleinen Dörfern, durch die wir fahren, kommen uns immer wieder Kinder entgegen- und hinterhergelaufen. “Silou! Silou!” rufen sie (jedenfalls höre ich das so) oder “Bombon! Bombon!”. Manche rufen nicht nur und warten ab sondern fordern regelrecht. Das ist bisweilen lästig. Es sind eben immer so viele Kinder (eigentlich ja nur Jungen), das wir tütenweise Bonbons mitführen müssten, wenn wir alle gleich behandeln wollten. Wenn wir mal Pause vom Wind machen wollen, geht das hier nur in den Orten, da nur Mauern oder Gebäude einen nennenswerten Schutz bieten. Aber sobald wir stehen, kommen die Kinder. Wenn einheimische Erwachsene dabei sind, halten sich die Jungen zurück, sind weniger forsch oder teilweise gar aggressiv.

Bei Ait Saadane setzen wir uns, um Brot und Datteln zu essen. Nach drei Minuten sind rund zehn Jungen um uns versammelt – alle so zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Wir wissen gar nicht wo die alle herkommen. Auf ihr “Silou! Silou!” zeige ich ihnen meine Datteln – gerne gebe ich welche ab. Aber das wollen sie nicht – sie wollen (sic!) Geld oder Bonbons. Sie beginnen, mit Lehmklumpen und Steinchen auf unsere Räder zu werfen. Ich schaue zwei von ihnen böse an und hebe meinen Zeigefinger. Dann lassen sie’s auch bleiben. Aber mir stellt sich die Frage, was ich machen soll, wenn sie mit Steinen auf uns werfen. Schimpfen? Dann lachen sie mich aus. Zurückwerfen? Was wenn ich einen träfe? Schlagen oder festhalten? Dann hab’ ich’s mit der ganzen Familie zu tun. Abhauen? Das würde sie animieren, hinterherzuwerfen. Die beste Erfahrung habe ich gemacht, wenn ich freundlich und bestimmt das “Silou” ablehne, in Dorf-Nähe nicht anhalte und wenn, dann dort wo andere Erwachsene sind. Je älter desto besser. Letztere dann freundlich mit “as-salamu!” grüßen und die Kinder sind nicht mehr frech.

Wenn Kinder dennoch auf freier Strecke zu aufdringlich werden, dann habe ich die Erfahrung gemacht, sie böse und grimmig anzuschauen und mit fester lauter Stimme zu reden. In welcher Sprache, ist egal. Da kommt es eher auf entschlossene Körpersprache und Phonetik an. Aber eins würde ich nie tun: Kinder anfassen, schlagen, halten oder bewerfen.

Gegen vier Uhr nachmittags frischt der Wind nochmal stärker auf und wir sehen eine sehr dunkle Gewitterfront auf uns zukommen. Karla kriegt trotz Kapuze und eng anliegender Sonnenbrille wieder ein paar Sandkörner unter ihre Kontaktlinsen und kann von einer Sekunde auf die nächste nichts mehr sehen. Da sie hinter mir fährt, bemerke ich erstmal nichts. Erst nach rund hundert Metern drehe ich mich um und sehe sie auf der Straße stehen. Der Wind wirft ihr Fahrrad um, sie steigt in den Straßengraben, um Schutz zu suchen. Ich fahre zurück und bemerke, dass sie ziemlich starke Schmerzen haben muss. Ich kann das nicht nachvollziehen, da ich noch nie Kontaktlinsen auf den Augen hatte. Karla kann ihre Augen kaum öffnen, die Linsen sind offensichtlich verrutscht, hier kann sie sie nicht herausnehmen. Wir müssen warten bis der Schmerz nachlässt. Letztendlich schafft sie es, die Linsen abzunehmen und ihre normale Brille aufzusetzen. Dennoch sieht sie zunächst erstmal nur wenig. Wir sind hier allerdings mitten im Nirgendwo, eine Gewitterfront kommt auf uns zu und wir müssen weiter. Ich fahre vorneweg, jetzt biete ich mal Windschatten. Das Unwetter scheint durch die Berge etwas aufgehalten zu werden, die ersten Regentropfen erreichen uns dennoch.

Der Wind wird zum Orkan, wir sehen einen Ort in rund einem Kilometer Entfernung. Mit einstelliger Geschwindigkeitsanzeige kriechen wir mit voller Kraft den mittlerweile schwarzen Wolken entgegen. Gerade beginnt es zu regnen, da erreichen wir eine Kasbah gleich am Ortseingang. Punktlandung! Unser Zelt hätten wir bei dem Wind in der vegetationslosen Ebene kaum aufgestellt bekommen.

Der Hotelier will 600 Dirham mit Halbpension, unsere Situation gibt keine gute Verhandlungsposition her. Wir schlagen 400 ohne Essen vor und einigen uns auf 500 mit Halbpension.

Trotz der Umstände sind wir heute in fünfeinhalb Stunden 87 Kilometer gefahren und jetzt schon kurz vor Alnif.

Spannend, zu sehen, wozu Menschen in der Lage sind. In Extremsituationen. Für mich war es eher eine körperliche Herausforderung und Anstrengung. Karla hat der Wind eher mental herausgefordert.

24. November 2011 – Vom Aus- und Einsteigen in einer Kasbah

Mistwetter! Kälte, Regen, Wind! Super-Kombi für Radfahrer. Einer der erwartetermaßen schönsten Abschnitte fällt dann wohl ins Wasser: Das Vallee du Draa.

Beim Bezahlen des Hotels frage ich Ahmed nach dem Rabatt. “Non!” – klare Ansage. Ich zahle, verabschiede mich mit einem Lächeln, Ahmed lächelt vielsagend zurück.

Auf dem Hauptplatz von Agdez kaufen wir noch ein paar Lebensmittel, trinken noch einen Tee und fahren dann aber auch los. Das Wetter wird ja durch’s Rumsitzen auch nicht besser.

Die Straße nach Zagora ist eng und viel befahren. Die japanischen und die alten französischen Laster haben alle ihre Auspuffrohre auf der rechten Seite auf Brusthöhe eines Radfahrers und pusten uns immer schön Ruß und Dieselgestank in die Nasen. Jedesmal, wenn ich von hinten so ein Ding herandröhnen höre, hole ich tief Luft und halte diese für rund zehn Sekunden an, bis der Wind (Gegenwind!) den Qualm verdünnisiert hat. Bergauf verkürze ich diese Zeit zwangsläufig auf rund fünf Sekunden.

Karla trägt eine sehr gute Regenjacke. Eine in diesen tollen Farben, die gar nicht mehr wie Farben genannt werden. Das heißt ja heutzutage nicht mehr “blau” sondern “marine”, nicht mehr “lila” sondern “taupe”, nicht mehr “gelb” sondern “sonne” oder so…

Karlas Jackenfarbe jedenfalls würde ich bezeichnen als “nasserfelsimvalleedudraa”. Was modisch sicher top ist, ist signaltechnisch für eine Radfahrerin im Regen auf einer vielbefahrenen marokkanischen Straße mit nassen Felsen im Hintergrund, auf der viele Autos nicht mal einen Scheibenwischer besitzen, eher suboptimal. Nach zwei bis drei sehr heiklen Situationen mit dem fließenden motorisierten Verkehr und zwei Stunden Regenfahrt entscheiden wir uns bei einer Tasse heißen Tee und einem superleckeren Omelett dafür, das Draa-Tal auszulassen und hier jetzt direkt über Tazzarine nach Rissani zu fahren.

Die Straße führt bergauf Richtung Nordosten. Jetzt beginnt ein echter Kampf gegen den Wind. Karla hat die besseren Beine und fährt vorn. Ich sehe zu, dass ich im Windschatten bleibe.

Es ist komisch, aber die Landschaft hier gefällt uns beiden wesentlich besser als das, was wir vom Vallee du Draa bisher sahen. Und der Verkehr ist merklich ruhiger hier. Richtige Entscheidung also.

Wir haben den ganzen Tag Regenklamotten an, schwitzen so gut wie gar nicht. Heute zeigt sich mal wieder, was gute Sachen ausmacht. Meine Bremsen allerdings benötigen bei Regen eine unakzeptabel lange Bedenkzeit, bis sie ihrer bestimmungsgemäßen Funktion nachgehen. Das liegt wohl an der Beschichtung der Felgenflanken. Hält zwar ewig, aber funktioniert nicht bei Nässe. Ich merke es mir für die nächsten Bremsvorgänge. Bremsen werden meines Erachtens sowieso überschätzt an so einem Reiserad. Aber das darf ich – glaube ich – nicht schreiben. Hier und heute hat sie nun 5.000 Kilometer geschafft, meine Rocinante. Und das seit Frühjahr diesen Jahres. Ich bin stolz auf sie. Noch nicht einen einzigen Platten hatten wir. Geschweige denn einen anderen technischen Defekt. Wenn ich an das Drama mit meinem Trecker in Alaska denke… Nee, ich mag sie sehr, meine neue Begleiterin. Hoffe, dass wir es lange miteinander aushalten. Die Felgen haben jedenfalls noch keinen sichtbaren Verschleiß, die Bremsklötze auch noch nicht. Und ich bin schon vollbeladen durch die andalusischen Berge, die Pyrenäen, den Luberon, Verdon, die Seealpen und über den Alpenhauptkamm gefahren. Und den Antiatlas jetzt hier. Also: Ein Rundumsorglosfahrrad. Danke, liebe Leute von Idworx. Meine Rocinante kommt, so wie sie jetzt ist, meiner Vorstellung von einem perfekten Reiserad schon sehr nahe. Einzig der Name gefällt mir nicht so: Easy TiRohler hört sich ein wenig nach österreichischer Reiseagentur für Menschen mit begrenztem Horizont an. Und die Abkürzung “ETiR” würde ich eher mit einem animalischen Pedelec assoziieren. Für mich ist’s meine Rocinante.

Gegen Abend erreichen wir einen Durchgangsort (den Namen will ich unter Hinweis auf den folgenden Dialog und mit Rücksicht auf unsere Gastgeber nicht nennen) und entscheiden uns für eine warme Dusche nebst Hotel. Am Ortseingang winken uns zwei Männer zu und zeigen uns ihre Kasbah. Eine wunderschöne Anlage! Aber 800 Dirham wollen sie für die Nacht. Wir verdeutlichen, dass das unser selbstgestecktes Budget überschreiten würde. Ich signalisiere allerdings Verhandlungsbereitschaft. 700 – nächste Stufe. Meine Lektion habe ich ja in Agdez gelernt. “400” sage ich – das wäre sowieso schon zu viel, aber unser Maximum. “600” der Hotelier. “Non, pardon” ich. “500, demi-pension inclusif” der Hotelier. Mir ist das fast schon peinlich, da ich mich hier auch gar nicht ausgenommen fühle. Dem Hotelier fällt das wohl auch auf, insofern habe ich das Gefühl, dass er mich versteht und es mir dann auch nicht schwer macht oder mir ein schlechtes Gewissen vermittelt. Ich schaue Karla bittend an, sie ist einverstanden. Ich auch, der Hotelier auch.

Die marokkanischen Hoteliers sind bessere Betriebswirte als die in Alaska.

Das war eine wirklich gute Entscheidung! Ich habe mich in meinem Leben bisher noch nie so wohl in einem Hotel gefühlt. Die Anlage ist ein Traum. Ganz liebevoll arabisch eingerichtet, ein Garten mit blühenden Blumen und mit Pfauen, die darin rumlaufen. Lese-Ecken im Haus und sehr geschmackvoll gestaltete Zimmer.

Beim Abendessen lernen wir ein englisches Paar kennen, das letzten Samstag heiratete und nun in den Flitterwochen ist. Sie werden irgenwo um die vierzig sein. Phil arbeitete bei Procter & Gamble im Marketing, Rown in einer Werbeagentur. Seit vier Jahren ist er Wanderführer in Chamonix und sie studiert Medizin in Oxford. “Financial suicide!” sagt Phil, aber jetzt macht er das was ihm Spaß macht (bis auf die “Idiots”, mit denen jeder hin und wieder zu tun hat) und Rown hat ihre Berufung gefunden. Wir diskutieren über Auswege für eingefahrene Wege und Sackgassen im Leben. Die beiden sind total nett und Phil ist mit einer typisch britischen Selbstironie beschlagen. Ich glaube, dass letztlich den meisten Menschen einfach der Mut fehlt, ihre vorgezeichneten Wege zu verlassen. Selbst wenn sie ihre Wege noch nicht mal selbst geplant haben: Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück. Da unterscheiden sich Menschen mit einer eher neugierigen Disposition von denen mit einer eher ängstlichen. Ich selbst habe mich vor Jahren entschieden, meiner finanziellen Verpflichtung den Kindern gegenüber nachzukommen. Bei dem ganzen Lug und Betrug, dem ich während der Scheidungsphase ausgesetzt war, hätte ich schon längst – legitim, aber nicht legal – aussteigen können. Und einige Freunde sagen: “Können? Sollen!”

Letztlich hätte ich aber damit kein glückliches Leben führen können. Die wirklich wichtigen Beziehungen, Dinge und Situationen im Leben hängen nicht vom Bankkonto ab. Wir geben unser Geld zumeist für Sachen aus, die aus Sicht der Glückseligkeit von eher untergeordneter Bedeutung sind. Im Gegenteil: Besitz macht ängstlich und kostet Zeit und Nerven. Angst vor Verlust, Fragen nach Anlagealternativen, Neid auf andere, Neid der anderen, und so weiter.

Ich bin dieser Meinung nicht etwa deshalb, weil ich mir meine “Armut” schönreden will. Nein – mein finanzielles Polster ist meiner Situation angemessen und wird in absehbarer Zeit dafür sorgen, dass ich noch mehr unterwegs sein kann.

Besser kann ich Geld doch nicht anlegen: Zeit und Erinnerungen. Zeit mit mir, Zeit mit den Kindern, Zeit mit der Natur, Zeit mit anderen Menschen, Zeit in anderen Kulturen, Zeit für Reisen – Denken – Leben. Was soll ich mit einem dicken Auto? 30.000 Euro für eine Blechbüchse? Das wären – von netto auf brutto umgerechnet – rund sieben Monate Zeit! Eine Reise durch Mexiko, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama mit einer Runde um Kuba. Mindestens.

Was für ein Wert! Und was machen all diejenigen Menschen in meinem Umfeld, die immer jammern, sie würden auch gerne mal aussteigen? Ein Auto, eine neue Küche, ein Anbau am Haus, ein Swimmingpool – das sei doch was Reelles! Gefangen. Gefangen in Traditionen, in archaischen Leidenschaften: Sammeln, jagen, verteidigen.

Ich habe letztens einen Vortrag von einem Professor aus Oldenburg gehört, Niko Paech heißt er. Er sagt, dass wir unsere Welt nur dann retten können, wenn wir nicht nur auf Wirtschaftswachstum verzichten sondern unsere Wirtschaftsleistungen um mindestens fünfzig Prozent schrumpfen würden. Postwachstumsökonomie nennt er das.

Ich wäre dabei! Halbe Arbeit, halbes Geld, drittel Steuern, doppelte Zeit zur freien kreativen Disposition, Klimaschutz inklusive. Wie gesagt: Wenn die Kinder ihr eigenes Geld verdienen, könnte das für mich Realität werden. Vorher werde ich ihnen noch empfehlen, in Oldenburg Postwachstumsökonomie zu studieren. Wer soll’s denn umsetzen, wenn nicht die Kinder? Ach ja – ich kann ja auch.

Am liebsten im Jahreszeitenrhythmus: Halbes Jahr arbeiten, halbes Jahr aussteigen. Oder ein Jahr arbeiten, ein Jahr aussteigen. Wieso eigentlich AUSsteigen? EINSTEIGEN!!!

Aber ganz so konsequent wie die beiden Briten werde ich nicht sein. Auch nicht sein wollen. Ohne Arbeitsphasen keine Vorfreude auf die Reisephasen. Vergleichbar mit den Jahreszeiten: Ohne Winter wäre der Frühling für mich nur halb so schön. Und selbst der Winter hat wunderbare Momente, die der Frühling nicht hat. Also werde ich ziemlich locker in die Zukunft sehen und gehen.

23. November 2011 – Aufklärung. Revolution. Falle.

Die erste Nacht, die wirklich ruhig war: Kein Wind, keine Esel, keine Autos, keine Fußball-Übertragungen. Bis auf unser gegenseitiges Röcheln, weil die Nasenschleimhäute mittlerweile ziemlich trocken sind. Aber das zählt nicht.

Bei strahlend blauem Himmel fahren wir los.

Die nächtliche und morgendliche Ruhe trügt – gegen zehn wird es windig. Gegenwindig.

Bei Imzil finden wir eine Herberge, die einen sympathischen Eindruck macht. Drei Kinder spielen mit Katzen, Hühnern, einem Hund und Ziegen in Hof und Garten.

Wir setzen uns vor das Haus, die Frau des Hauses sieht uns und ruft nach ihrem Mann. Wir bestellen Tee, Brot und ein Omelett. Letzteres war gestern noch in den Hühnern, die hier so rumlaufen.

Das unbeschwerte Spiel der Kinder lässt uns an unsere Kindheiten auf den Bauernhöfen unserer Großeltern erinnern. Ist die Zeit hier stehen geblieben?

Ja – allerdings nicht nur die letzten dreißig Jahre. Für Mädchen und Frauen aus unserer Sicht gefühlte fünfhundert Jahre.

In Irghem, als die Männer das Lokal verließen, als Karla reinkam. Vorgestern in dem Dorf, als die Frau sich versteckte, nachdem sie mich sah. Gestern, als Karla eine Frau ansprach, sofort ein Mann kam und mit mir redete. Überall in den Dörfern auf den Fußball- und Spielplätzen, auf denen ausschließlich Jungen spielen. In jedem Laden, in dem der Besitzer mir antwortet, wenn Karla fragt.

Wir fragen uns, warum die westliche Kultur es hinbekommen hat, Mädchen mit Jungen und Frauen mit Männern gleichzustellen. Schließlich war die Rolle der Frauen im mittelalterlichen Europa vergleichbar mit der Rolle der Frauen im mittelalterlichen Arabien und als Mauren aus dem Maghreb mit Christen und Juden in Spanien zusammenlebten, waren sie es letztlich als Kulturführer, die Wissenschaft und Kunst voranbrachten.

Ich vernachlässige jetzt mal, dass es aus Sicht eines arabischen Menschen arrogant erscheinen mag, wenn Europäer die hiesige Situation als menschenrechtlich fragwürdig kritisieren. Und ich setze mal gleichzeitig voraus, dass wir die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen in Europa als “Fortschritt” und in Arabien als “Stillstand” definieren.

Dann stellen sich mehrere Fragen, warum die Entwicklung unterschiedlich verlief.

Woran liegt es also, dass Frauen hier heutzutage aus unserer Sicht weniger Rechte haben als Männer? Warum sind wir in Europa weiter? Was sind die Gründe?

Karla und ich sind beide keine Geschichtskenner und Historiker, aber uns einig, dass die aufklärerischen Vordenker wie Kant, Voltaire oder Locke Schlüsselfiguren am Anfang unseres Entwicklungsprozesses waren. Aber nur mit Philosophen ändert man keine Kultur. Ihre Ideen müssen ja getragen und umgesetzt werden. Und da war es früher wohl “hip” in den höheren Kreisen, mit den Herren Philosophen mitzuhalten und ihre Ideen umzusetzen. So wurde die Idee gleichberechtigter, freier Menschen in die Verfassungen der europäischen Staaten und der USA aufgenommen. Und da die Adligen in Frankreich etwas schwer von Begriff waren, wurde die Aufklärung letztlich mit Gewalt durchgesetzt.

Wobei eine spannende Frage für mich unbeantwortet bleibt: Darf Aufklärung mit Gewalt durchgesetzt werden?

Egal – letztlich legte die Aufklärung den Grundstein für das was wir heutzutage unter Demokratie, Gewaltenteilung, Gleichberechtigung und Freiheit für alle verstehen.

Diese geistige und letztlich auch geistliche Entwicklung ist trotz der oben beschriebenen philosophischen Grundlagen der Mauren aus den “spanischen Jahrhunderten” an den arabischen Völkern vorübergegangen.

Wir fragen uns, ob der arabische Frühling, der momentan stattfindet, eine Revolution ist, die mit der französischen vergleichbar ist.

Ich selbst bin da eher skeptisch, denn ich habe in den arabischen Staaten noch keine geistige Bewegung wahrgenommen, die sich auch mit dem Islam kritisch auseinandersetzt – schließlich war die kritische Haltung zur Kirche im Zeitalter der Aufklärung letzterer immanent.

Insofern kämpfen im arabischen Frühling wohl zwei Pole um geistige und politische Vorherrschaft: der den Alltag bestimmende geistliche Konservatismus über die Prediger, die Kultur, die Fatwas auf der einen und der Bürger- und Menschenrechte, Rechtsstaat, Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Wohlstand verlangende Impuls vor allem der jungen Menschen auf der anderen Seite.

In Tunesien und Ägypten findet nach den Umwälzungen der letzten Monate langsam auch ein Erwachen statt, dass es mit einer Revolution allein eben nicht getan ist. Ich habe den Eindruck, dass nach diesem Erwachen eine Orientierung zu irgendetwas hin notwendig ist. Bisher war sie eher von etwas weg. Und da sind die Araber momentan noch eher richtungslos. Aber stolz können sie sein, auf diesen Anfang.

In Marokko selbst ist es ja nicht zu ähnlich starken Strömungen gekommen wie in den restlichen Staaten des Maghreb. Das hat sicherlich etwas damit zu tun, dass Marokko wirtschaftlich vergleichsweise ganz passabel dasteht und der junge König offensichtlich eher mit dem deutschen Friedrich II als mit den letzten französischen Ludwigs sympathisiert. Man könnte auch annehmen, dass er aus der Geschichte und den Schicksalen dieser Herren und der seiner östlichen Nachbarn gelernt hat.

Jedenfalls bleiben für uns Fragen offen, die die nahe Zukunft wohl nicht beantworten wird. Freitag finden hier Wahlen statt – wir werden permanent von Autokaravanen überholt, die lauter kleine Zettel aus den Fenstern werfen. Kinder sammeln die Zettel von den Straßen auf. Ich habe eine Ahnung, zu was sie schlussendlich dienen werden.

Nach ausgiebiger Diskussion untereinander zahlen wir und fahren von nun an mal wieder bergauf. Wir wollen ins Vallee du Draa und müssen über einen Pass. Auf dem Pass ist es recht kalt, wir ziehen uns winddicht an.

Karla ist bergauf stärker als ich, also kommt sie ein paar Minuten eher oben an als ich. Als ich nachkomme, diskutiert sie mit Torwärtern der Arhbar-Mine hier oben. Wir wissen nicht, was hier abgebaut wird – jedenfalls sind die Berge hier und das was aus den Minen rauskommt, sehr blau.

Zirka fünf Kilometer vor Agdez, dem Tor zum Vallee du Draa, steht ein moderner Lieferwagen am Straßenrand. Ein Mann sitzt drin, ein anderer unterhält sich mit ihm durch das offene Fenster der Fahrertür. Beide begrüßen uns freundlich und fragen, ob wir eine Nachricht nach Agdez mitnehmen könnten – sie hätten kein Benzin mehr.

Hilfsbereit wie wir nunmal sind, glauben wir, den Marokkanern ja auch mal was zurückgeben zu können. Also warten wir ab, bis die beiden einen Zettel mit einer Weg-Skizze zu ihrem Verwandten in Agdez und einer Nachricht in arabischer Schrift vollgemalt haben.

In Agdez ist das Haus, zu dem wir fahren sollen, einfach zu finden. Davor stehen zwei Männer, die uns freundlich begrüßen und uns den Zettel abnehmen. Karla ist schon skeptisch: Warum erwarten die beiden uns?

Wir werden in einen Verkaufsraum geführt und zu einem Tee eingeladen. Und nun entwickelt sich das, was man gemeinhin “sensibles Verkaufsgespräch” nennt. Wir werden gefragt, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Rissani – unser nächstes Ziel – wird verrissen, stattdessen sollten wir doch besser nach Mhamid fahren, dort seien wesentlich schönere Dünen und weniger Touristen.

Der Verkäufer kennt zufällig auch jemanden, der dort Allrad-Geländewagen vermietet und Kamel-Touren anbietet.

Wir verdeutlichen, dass wir nur mit dem Rad fahren und auf Autofahren liebend gern verzichten.

Dann sollen wir die typischen Trachten der Touareg anziehen. Das finde ich widerum gut – frage mich schon die ganze Zeit, wie die Menschen hier diese einfachen Tücher so um den Kopf binden, dass es gut aussieht und sehr funktionell gegen Kälte, Hitze, Sand und Regen schützt.

Als wir ablehnen, die Tracht zu kaufen – aus für ihn sogar plausiblen Gründen: Wir haben schlicht keinen Platz im Gepäck, schüttet er Schmuck aus Mauretanien auf einen Teppich.

Noch in voller Tracht staunen wir: Alles Silber, Gold und Ebenholz, alles Handarbeit. Sagt er. Mir gefällt ein Armreif und ich bekunde Interesse. Damit schnappt die Falle offensichtlich zu. Nach einiger Diskussion kaufe ich zwei Armreife für “good price” – hoffnungslos überteuert wahrscheinlich. Aber wie ist es mit der Kunst? Wenn’s Dir gefällt und Du’s Geld hast, kauf’s.

Karla friert, ich auch und wir wollen in ein Hotel. Kein Problem, sagt unser Gastgeber, er kennt einen Verwandten, der ein Maison betreibt: “Good price!” Karla wird sauer, wir wollen in das Hotel, an dem wir vorhin vorbeigefahren sind. Unser Händler schreibt etwas auf arabisch auf einen Zettel und sagt: “No problem – give it to Ahmed – he will make good price.” Und morgen früh sollen wir hier nochmal vorbei kommen, um ein Auto und eine Kamel-Tour zu buchen. Ich bin fast soweit, mein Ehrlichkeitsprinzip über den Haufen zu schmeißen und “Yes!” zu sagen, kann mich aber im letzten Moment noch zu einem “Maybe!” retten.

Draußen ziehen zur Kälte noch dunkle Wolken auf und wir wollen jetzt nur noch eine heiße Dusche. Das scheint Ahmed auch zu merken und fordert 300 Dirham für ein Doppelzimmer ohne Frühstück von uns. Ich gebe ihm den Zettel, er mir kommentarlos mit rollenden Augen den Zimmerschlüssel. Ich bin gespannt – Zahltag ist morgen früh.

Beim Abendessen fragen wir uns, ob wir hier einem Betrug aufgesessen sind. Oder zumindest einer schlauen Masche, ahnungslose Touristen in einen Verkaufsraum zu locken. Wenn das so war, dann ist das Ding mit dem trockengefahrenen Auto schon echt ein Hammer. Soviel zur marokkanischen Gastfreundschaft in Touristengebieten.

Ich weiß nicht, ob mir das peinlich ist. Aber ich weiß eben auch nicht, ob das alles gespielt war. Ich will das aber auch gar nicht wissen. Ich werde künftig aber misstrauischer sein. Obwohl misstrauische Leute unglücklicher sind als Leute, die eher vertrauensselig sind.

Vielleicht verkaufe ich die Armreife mit dieser Geschichte bei ebay und spende das Geld für einen guten Zweck. Einer Flasche Wein zum Vergessen, zum Beispiel…

22. November 2011 – Ich. Arroganter Weltverbesserer.

Bis heute nacht wusste ich nicht, wie Esel exkrementieren, fressen, stinken und schreien können. Nachts um vier prägt sich das aber schnell ein. Vor allem, wenn das Anschauungsobjekt genau zwei Meter entfernt agiert. Also wieder eine unruhige Nacht.

Dafür entschädigt der Morgen. Die Sonne sorgt für thermische und optische Wärme.

Karla und ich entscheiden, erst in Mrimina einen Tee zu trinken und jetzt ohne Frühstück loszufahren.

Eine halbe Stunde später stehen wir an der Straße und schauen unsicher in Richtung des Dorfes. Einladend ist was anderes… Mrimina ist ein Wüstendorf, ähnlich einer Festung. Die Wege, die hineinführen, sind geschottert. Vor dem Dorfeingang sitzen ein paar Menschen, die im Schatten wahrscheinlich auf einen Bus warten. Karla fragt eine Frau in einem dieser typisch kräftig-farbenen Talaren, ob wir hier ein Brot kaufen könnten. Sofort kommt einer der Männer, die eigentlich woanders sitzen, um sich als Ansprechpartner zu präsentieren. Und er geht auch nicht auf Karla zu sondern auf mich. Er schickt uns rein ins Dorf, dort gäbe es eine “fête”, wo wir einkaufen könnten.

Langsam fahren wir über die Sandpiste ins Dorf, zwischen Lehmmauern und nahezu fensterlosen Häusern. Die Stille hier ist seltsam. Ich habe mich auf meinen Reisen noch nie so fremd gefühlt wie in diesem Moment. Noch nie so uneingeladen, so unwillkommen.

Die “fête” scheint irgendwas religiöses zu sein – der Eingang sieht aus wie der Eingang zu einer Moschee. Wir rollen weiter. An einer Ecke steht ein Schwarzafrikaner – ihn frage ich nach Brot. Ob ich hier welches kaufen könnte. “No!” – kurz und bestimmt. Ein älterer Beduine kommt hinzu, fragt auf arabisch nach. Nach einem kurzen Gespräch zwischen den beiden Männern sollen wir warten: “Attends!”

Der Alte geht in eines der Häuser und kommt mit einem halben Laib Brot wieder raus. Aus einem Nachbarhaus kommt noch ein Mann mit zwei kleinen Broten auf uns zu. Ich merke, wie die Menschen auftauen und sich die Mienen auf den Gesichtern erhellen. Als ich frage was ich zahlen soll, sind die Männer fast beleidigt. Ich gebe ihnen einen Erdnussriegel aus Deutschland, den ich noch als Notration in meiner Blechbüchse habe.

Jetzt sollen wir noch zum Tee ins Haus kommen. Karla winkt ab, ihr ist es zu mulmig. Wir bedanken uns ganz freundlich und verabschieden uns herzlich. Der junge Schwarze fragt nach meiner Adresse. Ich überlege nicht lange und schreibe sie ihm auf.

Dann fahren wir wieder zurück auf die Hauptstraße N12 und fragen uns, warum die Männer meine Adresse wollten – vielleicht als Anlaufpunkt in Deutschland. Karla und ich sind beide der Meinung, dass es richtig wäre, diesen Menschen in Deutschland zu helfen soweit das möglich wäre. Das sind keine Flüchtlinge! Das sind keine Extremisten! Das sind keine Verbrecher! Das sind keine Terroristen! Das sind keine Migranten! Das sind wunderbare, hilfsbereite und gastfreundliche Menschen, die unsere Gastfreundschaft genauso verdient haben wie sie uns ihre andienen.

Was sehen wir denn schon auf unserer abgeschotteten Insel der Glückseligkeit in den Zeitungen und Nachrichten von muslimischen Ländern und dieser Gesellschaft? Das, was uns eben passiert ist? Die Unbekümmertheit der Kinder, die vor den Häusern spielen? Das wuselige Treiben auf den Märkten hier? Den Respekt, den die Menschen sich gegenseitig allein beim Grüßen und Verabschieden entgegenbringen?

Nein. Wir sehen das, was wir sehen sollen, weil es das ist was wir sehen wollen. Wir wollen unsere Schubladen füllen. Und auf der Schublade “Arabischer Staat” steht: Randale in den Vororten von Paris durch maghrebinische Jugendliche, Revolution in Tunis oder Algier, Al Quaida fasst Fuß in Libyen, Kriminalität durch Ausländer nimmt zu, und so weiter.

Wir bekommen verkürzte Ausschnitte präsentiert, zugeschnitten auf ein sensationsgeiles Publikum, das ansonsten bei Wetten dass oder DSDS degeneriert und sich einen Scheißdreck darum kümmert, warum die Welt so ist wie sie ist. Wahrscheinlich weil die Degeneration des Denkens schon zu weit fortgeschritten ist…

Wenn ich hier in der aus unserer Sicht “herrschenden” Armut sehe, mit welcher Herzlichkeit Menschen miteinander umgehen können und dann an die Novembergesichter denke, die mich in Deutschland wieder daran erinnern, dass ich auf der falschen Radwegseite fahre, würde ich am liebsten hierbleiben.

Diese Menschen sollen “arm” sein? Diese Menschen sollen von uns lernen wie “man” lebt? Betet? Konsumiert? Wenn wir nicht so arrogant wären, könnten wir hier lernen – von diesen Berbern, Marokkanern, Beduinen, Moslems – wie Herzlichkeit gelebt werden kann. Wie “Miteinander” funktioniert. Wie Prioritäten gesetzt werden können.

Nach zwei Stunden machen wir Pause. Eine Akazie spendet wohltuenden Schatten. Die Wüste meldet sich an. Karlas Vorderrad ist platt. Wir flicken es, ich wasche mir die Schmiere mit Sand und einem Mund voll Wasser von den Händen. Hier hat Wasser einen großen Wert. Auch wenn wir überall welches kaufen können (von Coca-Cola!), so haben wir doch Respekt vor dem Verbrauch. Mitten im Nichts in praller Sonne kann jeder Schluck lebenswichtig sein.

Kamele haben sich ja sehr gut an diese Bedingungen angepasst. Einige von ihnen überqueren direkt vor uns die Straße. Ihre Bewegungen und offenbar auch ihr Gemüt sind extrem unemotional. Für das Überleben in der Extremsituation “Hitze” optimiert. Während Karla versucht, eines der Tiere zum Bleiben zu animieren, denke ich darüber nach, was ich von diesen Tieren lernen könnte.

Foum Zguid sehen wir schon von weitem. Dennoch sind es noch über zwanzig Kilometer bis dahin. Wir glauben das nicht – anscheinend täuscht uns diese Landschaft Entfernungen vor, die de facto viel größer sind.

Der Ort selbst ist ein Touristenort. Eine große Kaserne und ein Campingplatz begrüßen uns. Auf dem Hauptplatz kaufen wir Obst und Gemüse, danach essen wir Mittag in einem Restaurant. Ich bestelle ein Omelett – es kommen zwei Sorten Oliven, Brot und ein Rührei mit Tomaten. Lecker.

Ein großer Geländewagen hält direkt vor dem Restaurant – ein “originalgetreuer Touareg” und vier amerikanische Touristen steigen aus und setzen sich an den Nachbartisch. Karla und ich diskutieren, ob eine solche Form von Urlaub legitim ist oder nicht. Ich empfinde diese Sorte Touristen als Zoo-Besucher, die sich im Schutz ihrer Klima-Anlagen und Zoo-Führer durchs Land karren lassen und zwar viel fahren, aber absolut nichts wirklich “erfahren”. Was Land und Leute hier wirklich ausmachen, zum Beispiel. Wie sich ein Sandsturm anfühlt, zum Beispiel. Wie man sich begrüßt, zum Beispiel. Karla sieht in meiner Sicht ein wenig Arroganz und verweist darauf, dass nicht jede(r) mit dem Rad durch die Wüste fahren kann. Ist ja gut…

Ich bin noch bewegt von meinen Gedanken von vorhin und frage mich dennoch, ob diese Menschen ihre Einstellungen zu Reichtum und Armut auch mal aufgrund einer solchen Reise in Frage stellen. Oder ihre Einstellungen zu den sich andeutenden Süd-Nord-Wanderungsbewegungen (die sich zwangsläufig verstärken werden – allein schon wegen der demografischen Entwicklungen in der Welt). Ja, jetzt bin ich mal arrogant: Nein. Tun sie nicht. Die freuen sich, mit hundert Sachen im Jeep über die Wüstenpisten zu heizen und hinterher nur hundert Dirham für ein Vier-Gänge-Menü zu zahlen.

Ach – was rege ich mich auf… Nur eins noch: Ich künde Karla an, dass, wenn jetzt hier ein holländisches Wohnmobil hier auftaucht, ich mich in den Sand werfe und eine halbe Stunde schreie. Diese Dinger und ihre Insassen haben mich in Südfrankreich im Herbst traumatisiert.

Wir haben nicht mehr viel Zeit und fahren weiter. Die Berge rücken wieder enger zusammen und sind teils braunrot, teils grauschwarz, teils grünblau.

Gegen halb vier kaufen wir noch mal drei Liter Wasser. Die Kinder, die neugierig um uns herumstehen, lachen uns an. Ein kleiner Junge trägt ein Fußballtrikot von Real Madrid. Ich sage auf spanisch: “Real? – Pah! – Yo soy de Barcelona! Fue alli y miré a Messi y Xavi y David Villa!”

Der Kleine schaut erst scheu zu mir, dann lache ich, dann grölen die Barca-Anhänger seiner Kumpels angedeutete Fan-Gesänge und dann lacht die ganze Bande. Rufen gegenseitig die Argumente für und gegen die beiden Klubs. Die Erwachsenen wissen erst gar nicht was los ist, lachen dann aber auch mit.

Direkt an einem Fluss finden wir einen schönen Platz für unser Zelt. Eine Horde Kinder hat hier wohl gerade gebadet und gespielt – auf dem Nachhauseweg lächeln und winken sie uns zu. Es ist ein besonderes Gefühl, in einem so freundlichen und jungen Land zu sein.

21. November 2011 – Prozessionen, Polizei, Persönliches

Kinder wecken uns – sind auf dem Weg zur Schule, schauen zu uns rüber, zögern, näher zu kommen. Schon lange habe ich diese süße Mischung aus Schüchternheit und Neugier nicht mehr gesehen.

Danach folgt eine kleine Ziegenherde. Die Hirtin ist in einen dunklen Talar gekleidet.

In Tata findet eine Prozession statt. Die marokkanischen Nationalflaggen flattern im Wind. Diese blutroten Tücher allerorten finde ich sehr schön. Vor allem mit diesem dunkelgrünen Stern in der Mitte. Ich mag den Kontrast.

Ich weiß nicht ob es eine religiöse oder politische Veranstaltung ist. Jedenfalls singen die Männer (Frauen sind nicht dabei) Kanon-ähnliche Strukturen und Rhythmen. Die Schwingungen der Gesänge, die gleichmäßige Trägheit der Schritte, das Flattern der Fahnen – irgendwas wirkt da gerade sehr beruhigend auf mich. Stundenlang könnte ich zuschauen und zuhören, die Augen schließen und nur zuhören.

Wir entscheiden mit Rücksicht auf die Kultur der Menschen und auf die uns unbekannten Motive und Ziele dieser Prozession, ihr nicht weiter zu folgen sondern jetzt raus zu fahren – Richtung Wüste.

Der nächste Ort ist 75 Kilometer entfernt: Tissint. Wir prüfen nochmal unsere Wasservorräte und fahren los.

Die Landschaft gewinnt an Weite, die Berge sind schwarz, braun, grün.

Kurz vor Tissint kündigt sich die Sahara an: Eine Art Schlucht ist in festen Sand gefressen. Die Strukturen werden durch die um diese Jahreszeit tief stehende Sonne wunderbar schattiert.

In Tissint kontrollieren uns zwei Polizisten. Sie fragen wo wir herkommen, hinwollen und wo wir schlafen wollen. Ich antworte, dass wir heute nur noch kurz und morgen bis Foum-Zguid wollen. Wann wir dort ankommen, wollen die Männer wissen. Gegen vierzehn Uhr. Einer geht mit unseren Pässen ins Gebäude, ich frage den anderen ob es Probleme mit oder für uns allgemein und an der algerischen Grenze im Besonderen gäbe. Nein – keine Probleme, alles sicher, alles klar. Ich überlege schon, was uns das kosten wird, hier wieder weiterzufahren.

Was mich allerdings beruhigt, ist die Tatsache, dass das hier keine kleine Dorf-Polizei-Station ist, in der die eine die andere Hand wäscht. Hier gehen auch Zivilisten und Soldaten ein und aus. Und zwar dauernd.

Der Polizist, der uns bewacht, und ich unterhalten uns in einer Mischung aus Englisch und Französisch. Nach rund fünfzehn Minuten kommt der andere wieder raus und fragt nach unseren Berufen. Manager und Scientist. Beide wollen wissen, was das bedeutet. Ich frage mich, warum die das wissen wollen. Ist es richtig, zu signalisieren, dass man einen einträglichen oder bedeutungsvolleren Beruf als andere hat? Ach – schnickschnack, was ist das ist. Ich bleibe bei der Wahrheit, auch hier. Nach einer kurzen freundlichen Erläuterung fahren wir weiter.

Die Menschen hier sind irgendwie ganz anders als bei den Berbern in den Bergen. Dunkler, viele Schwarz-Afrikaner. Wir kaufen uns noch Wasser, Brot und etwas Käse und fahren weiter. Karla fühlt sich nicht wohl hier als Frau mit nackten Beinen.

Im Oued el Maleh finden wir einen Bilderbuch-Platz zum Zelten. Ein kleiner Fluss fließt hier und wir stellen das Zelt auf einen Rasenplatz, eingerahmt von Dattelpalmen. Die Datteln können wir einfach so vom Boden auflesen, waschen und essen.

Wir genießen den Luxus, uns und unsere Wäsche im Bach waschen zu können. Die Sonne malt beim Untergehen die Palmen orange und die Wolken lila an.

Abends im Schlafsack gehe ich mal meiner Frage nach, warum eine Reise zu zweit so ganz anders ist als eine Reise allein. Es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob Karla und ich uns verstehen oder nicht, ob wir gleich kräftig sind oder nicht, gleiche oder unterschiedliche Biorhythmen haben. Es geht auch nicht darum, was besser oder schlechter wäre. Es geht darum, das “anders” zu erkennen. Ich merke, dass wir gegenseitig emotionale Impulse aussenden, auf die wir gegenseitig auch reagieren und mal mehr, mal weniger tief eingehen.

Das bindet Zeit und Energie, die ich sonst für mein freies Denken, Fotografieren, Reden, Beobachten, Ausprobieren einsetze. Also gebe ich etwas auf, das ich sonst sehr schätze und von dem ich auf Reisen und auch hinterher sehr zehre.

Andererseits genieße ich die Diskurse, die Karla und ich führen. Ihre Sicht auf die Verhältnisse hier, die Schilderungen ihrer so ganz anderen Gefühle, die sie hier entwickelt. Das nehme ich mit und das bereichert auch meine Eindrücke.

Es ist eben “anders”, zu zweit zu reisen – nicht besser, nicht schlechter.

Und es ist ganz “anders”, mit jemandem zu reisen, den man noch gar nicht so richtig kennt, noch nie in körperlichen, emotionalen oder sozialen Extremsituationen kennen gelernt hat. Ich weiß nicht, ob ich das nochmal machen möchte.

Und für mich ist es auch ganz “anders”, mit einem Menschen zu reisen, den ich liebe. So wie mit meinem Sohn im Sommer von Goslar nach Berlin. Ich weiß, dass ich das gerne mal wieder machen möchte.