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3./4. Dezember 2011 – Melilla: Letzte Insel der Harmonie?

Karla und ich haben uns eine leichte Erkältung eingefangen, die den Samstag als Ruhetag definiert. Wir trennen uns, um Melilla jeder auf eigene Faust zu erkunden.

Im Naturkundemuseum lerne ich viel über die Berber. Das Wichtigste scheint mir deren Ethos zu sein: Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und: Das gesprochene Wort zählt mehr als das Gesetz.

Na das ist doch mal was Besonderes: Verlässlichkeit und Vertrauen in den Freund oder den Geschäftspartner ist größer als das Vertrauen in den Staat. Gut: Die Berber selbst hatten auch nie einen eigenen Staat – sie leben in unterschiedlichen Gruppen in verschiedenen Staaten.

Und bei einer hohen Analphabetenrate sowie einer Schrift, die eher Lautschrift mit viel Platz für Interpretationen als klar definierendes Dokumentationsmedium ist, ist das gesprochene Wort und ein gutes Erinnerungsvermögen wertvoll.

Und doch, mich bringt das schon zum Nachdenken: Was ist bei uns denn noch ein gesprochenes Wort wert?

Wenn ich mich zum Kaffee verabrede, kommt fünf Minuten vor dem Treffen ein Anruf auf dem Mobiltelefon: “Du, ich verspäte mich, sorry.”

Beliebigkeit durch permanente Erreichbarkeit.

“Schatz, hast Du meine Ersatzteile mitgebracht?” “Sorry, hatte vergessen, das auf meine To-Do-Liste zu schreiben.”

Beliebigkeit durch Abhängigkeit von Listen.

Ich verabrede mit jemandem eine Regelung, erst mündlich, dann sogar schriftlich. Wir streiten uns irgendwann vor Gericht und dort negiert dieser Mensch unseren Vertrag, weil er ihm finanziell zum Nachteil gereicht. Begründung das Anwalts: Der Vertrag ist nicht notariell beglaubigt. Damit ist das im Vollbesitz aller geistigen Kräfte aller Beteiligten gegebene Wort ausgehebelt.

Beliebigkeit durch Ausnutzen der Unkenntnis letzter gesetzlicher Regelungen.

Das letzte Beispiel hat – selbst erlebt – die schwerwiegendsten Konsequenzen: Neben der tiefen Enttäuschung, die ich dem anderen gegenüber empfinde, verstehe ich die Motivation auch nicht. Warum erniedrigen sich Menschen wegen ein paar Euro (die für sie selbst einen eher geringen Grenznutzen haben) und beenden Freundschaften, Beziehungen oder gar Ehen.

Aber das Prinzip ist in allen drei Fällen das gleiche: Konsequenzen eigener Entscheidungen und damit eigenen Tuns werden kaum noch vorgedacht. Oder zu Ende gedacht. Und dann muss – da die Konsequenz ja nicht gedanklich vorweggenommen wurde – auch nicht mit den Konsequenzen gelebt werden. Wer aber die Konsequenz-Möglichkeiten im Sinne des Durchdenkens unterschiedliche Szenarien gedanklich vorwegnimmt, den trifft die Realität später nicht so hart, der muss sich keine Ausreden oder gar Lügen ausdenken, um die Konsequenzen seines eigenen Tuns zu tragen.

Spannung entsteht dann, wenn eigene Entscheidungen auch andere betreffen und beide unterschiedliche Erwartungen bezüglich des Einhaltens von Verabredungen haben. Beliebigkeit wird dann zur Bewährungsprobe.

Manchmal frage ich Menschen, mit denen ich Verabredungen treffe, wie ernst es ihnen ist und bitte sie, auf einer Skala von eins bis zehn die Verbindlichkeit ihres Teils der Verabredung einzusortieren. Das bringt häufig erstmal verblüffte Reaktionen mit sich: Zuerst wird die Vertrauensfrage gestellt, dann reflektiert und dann sich irgendwo zwischen sieben und neun einsortiert. Aber selten bei zehn.

Insofern kommt mir der Gedanke, dass mir die Berber lieb und ihre Prinzipien teuer sind.

Draußen im Park setze ich mich in die Sonne. Auf eine Bank. Es ist Samstag, ich beobachte auffallend viele Juden, die zwischen mir und weihnachtlich geschmückten Palmen zum Gebet gehen oder vom Gebet kommen. Mit Büchern im Arm, zum Teil traditionell gekleidet, zum Teil mit Anzug und immer mit Kippa als sichtbares Zeichen der Demut vor den Sitten Israels. Vorhin im Museum las ich, dass die Juden traditionell einen hohen Anteil an der Bevölkerung Melillas stellen. Dennoch: Obwohl ich weiß, dass ich mich in einer Exklave und hoheitlich auf spanischem Boden befinde, beschleicht mich beim Anblick der Juden auf muslimischen Boden mit um diese Zeit inflationär exponierten christlichen Symbolen ein irritierendes Gefühl der Wachsamkeit. Ich suche Menschen in arabischer Kleidung, um deren Reaktionen auf diese von mir interpretierte “Provokation” im Alltag zu beobachten. Ich finde zwar einige Araber, die auch die Juden sehen. Aber ich sehe keine Ablehnung, kein Befremden, keine Irritationen. Somit auch keine Provokation. Eher Unaufgeregtheit, eine Art Gleichgültigkeit. Zumindest den “feindlichen” religiösen Symbolen auf den Köpfen der Menschen und den Zweigen der Bäume gegenüber.

Was lässt uns in anderen Teilen der Welt so intolerant sein? Warum funktioniert das Miteinander hier in Melilla? Wie würde sich das Zusammenleben ändern wenn Melilla morgen von den Spaniern an die Marokkaner abgetreten würde? Auf jeden Fall würde sich herausstellen, ob das wahrgenommene Fehlen von Missgunst und Ablehnung auf einem traditionellen und kulturellen Frieden zwischen den hiesigen Religionen basiert oder nur auf einem durch die Exekutive aufoktroyierten und überwachten Waffenstillstand.

Um halb zwölf abends legt die Juan J. Sister ab. Es ist kalt an Deck.

Im Innern der Fähre finden wir Räume, die uns zugewiesen sind, die uns an Kinos erinnern. Nur ohne Leinwand. Zum Glück ist die Fähre nicht so voll. Ich finde eine leere Dreier-Reihe Stühle, lege meine Isoliermatte vor die Stühle, packe mir mit meinen Klamotten ein Kissen zurecht und lege mich schlafen. Es geht besser als gedacht. Gegen eins wird sogar das Licht ausgeschaltet.

Nun liegt Afrika also auch geografisch hinter uns.

Ich bin zu müde zum Nachdenken, schlafe bald ein.

Gegen sechs Uhr morgens weckt uns eine Lautsprecherdurchsage und das Einschalten des Lichts.

Wir laufen in den Hafen von Malaga ein. Die Sonne geht im Osten auf: Bilderbuch-Panorama.

Wir schließen unsere Räder los, verlassen den Hafen, gesellen uns in einem der Cafés in Malaga zu irgendwelchen jugendlichen Nachteulen, die sich vor dem Schlafengehen nochmal stärken wollen, frühstücken und fahren durch ein sonntagfrühleeres Malaga zum Flughafen.

TUI-Flug Nummer sowieviel nach Berlin fliegt fast pünktlich ab. Im Flieger frage ich meinen Nachbarn nicht, wohin wir eigentlich fliegen.

Nach der üblichen Werbe- und Verkaufsqual, ohne Film und labberigem Flugzeugbrötchen landen wir pünktlich in Berlin. Es ist Abend und kalt. Vom Flughafen aus fädeln wir uns durch den nächtlichen Berliner Stadtverkehr und den kalten Nieselregen zum Hauptbahnhof.

Vor einer völlig unspektakulären Bahnfahrt nach Hannover gebe ich mich – während Karla sich einen Salat-Döner holt – einer nach zwei Wochen Omelett, Couscous, Fladenbrot, Nussmischungen rauf und runter sowie dem Verzicht auf ein leckeres TUI-Flugzeug-Labberbrötchen fast unkontrollierbar gewordenen Gier nach Deutscher Kultur hin: Berliner Currywurst XXL mit Pommes und Mayo.