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18. Juni 2009: Von Clinton nach Pavillion über DEN Berg

Ich fahre weiter auf dem Highway. Das ist Grund genug für mich, mir wieder meine Stöpsel in die Ohren zu stecken und Musik zu hören.

Ich trete so vor mich hin, als mich John Lennon ansingt. Zunächst singe ich einfach so mit, bis der erste Refrain ertönt: I’m just sitting here watching the wheels go round and round, I really love to watch them roll.

Irgendwie macht das gerade „Klick“. Nie hat mich ein Lied so berührt wie dieses jetzt und hier. Ich lasse es zurückspringen und höre nochmal bewusst von vorn.

People say I’m crazy doing what I’m doing. Jepp, genau, sagen meine auch. Die nächsten Zeilen wecken Sehnsüchte in mir. Sehnsüchte, die mir meine eigene Unfreiheit bewusst machen. Nein, John, ich kann mich nicht hinsetzen und mir die Schatten an der Wand anschauen. Ich muss noch auf dem Karussell sitzen bleiben. Vielleicht sogar so lange bis ich runterfalle.

Es ist faszinierend, zu merken, was ein eigentlich simples Lied auslösen kann. Wie eine Billardkugel trifft es meine im Dreieck schön geordnet liegenden Gedankenkugeln. Sie stieben auseinander, knallen an die Bande meiner Vorstellungen, prallen zurück, knallen wieder gegenseitig auf sich und hören nicht auf zu rollen. Als gäbe es keine Reibung, keinen Luftwiderstand, nur Bewegung. Mein Ich, Kinder, Eltern, Arbeit, Geld, Gesundheit, Zukunft, Vergangenheit, Haus, Freunde, Pläne, Reisen, Fremdes, Vertrautes – alles rollt durcheinander, knallt aufeinander und wieder voneinander.

I really love to watch them roll.

In Clinton muss ich mein Billardspiel aufgeben, nehme mir vor, die Kugeln jetzt mal ausrollen zu lassen und sie mir dann einzeln anzuschauen und vielleicht ein neues Dreieck zu sortieren.

Jetzt will ich nach Pavillion. Endlich wieder Backroad fahren. Pavillion ist nicht ausgeschildert, ich frage einen Mann auf dem Bürgersteig, ob ich hier nach Pavillion komme. Pavillion? DAS Pavillion, über DEN Berg? Ich frage wieviele Pavillions es denn hier so gibt. Es scheint ihm völlig abwegig zu sein, mit einem Fahrrad nach Pavillion zu fahren. Irgendwas muss zwischen hier und dort sein, das schwierig zu überwinden ist. Ich biege rechts ab, es ist die letzte Straße vor dem Ortsausgang von Clinton und sie heißt Clinton-Pavillion-Road.

Am Kelly Lake lädt mich eine Bank nochmal zum Verweilen ein. Neben ihr empfiehlt mir ein Schild, zu beten, dass der kommende Berg einfach so verschwindet. Gut, für ein Selbstportrait falte ich die Hände, mich fragend, was denn wohl kommen möge.

Erst kommt noch ein Schild, das mir ganz nüchtern mitteilt, dass die nächsten fünf Kilometer mit 14% Steigung zu rechnen ist, dann kommt es heftig. Die Rohloff rutscht wieder durch, ich steige ab und schiebe eine ungefähr 30 Kilo schwere Fuhre fünf Kilometer DEN Berg zwischen Clinton und DEM Pavillion hoch.

Zum Glück ist es heute etwas kühler als die letzten Tage. Und gutes Wetter. Zum Unglück finden das die Moskitos auch.

Die Mistviecher sitzen im Gras und warten auf Schatten, die vorbeiziehen. Sie haben John Lennon besser verstanden als ich. Schiebend bin ich wehrlos gegen die Angriffe der Insekten, schiebe in der Mitte der Straße und zwar so, dass mein Schatten nicht über das Gras zieht. Ich lege mein Fahrrad mitten auf die Straße und pinkele mitten auf die Straße, damit mein Schatten nicht aufs Gras fällt. Straße ist ja auch übertrieben. Eine Gravelroad, auf der mich niemand überholt und mir niemand entgegenkommt. Bis oben zum Hochplateau, was ich nach ungefähr zwei Stunden Schieberei erreiche.

Es scheint zu funktionieren, mich stechen höchstens zehn Moskitos.

Oben ist dann auch Abend. Und das Radfahrerparadies. Ich bin stolz und ausgelaugt, fahre noch rund zehn Kilometer, bis ich zum Tal des Frazer River komme. In einer Kurve der Clinton-Pavillion-Road fahre ich von der Straße ab und suche mir einen Zeltplatz. Hier ist es wunderschön.

Ich zelte am schönsten Ort meiner bisherigen Reise und frage mich, ob ich Lust habe, meine Billiardkugeln noch ein wenig klickern zu lassen. Nein, keine Lust. Sie klickern von alleine vor sich hin, ohne meine Aufmerksamkeit zu binden. Die schwindet, während die Müdigkeit erscheint.

Ich genieße den Blick in den Canyon bis es dunkel ist. Einfach so.

In Clinton people said I’m crazy doing what I’m doing,
Well they gave me all kinds of warnings to save me from ruin,
When I said that I’m o.k. they looked at me kind of strange.

I’m just sittin’ here watchin’ the sun going down…

17. Juni 2009 – 100-Mile-House bis 70-Mile-House

Ich zelte nicht mehr am Highway. Nie wieder! Never ever! Das Zelt steht etwas unterhalb der Straße – die LKWs fahren über mich drüber. Die ganze Nacht. Es ist jetzt zwei Uhr und ich komme maximal zu fünfzehn Minuten Schlaf am Stück. Trotz Ohropax. Ich stöpsel um: Ohropax raus, Ohrhöhrer rein. Madonna volle Lautstärke, ich summe leise mit. Aber schlafen kann ich damit auch nicht. Nach drei Liedern stöpsel ich wieder zurück. Es reicht ja, wenn ich einfach nur liege. Ausruhe. Muss ja morgen nix Intellektuelles leisten. Ein neues Geräusch macht mich neugierig: Regen. Na, prima. Ach, hier ist’s zwar laut, aber trocken und kuschelig. Und so schlafe ich dann auch irgendwann ein.

Ich frühstücke nochmal in dem Hamburger-Restaurant von gestern abend: Pancakes mit Whipped Butter und Obst. Das muss ich zuhause mal ausprobieren: Butter schmelzen, mit Sahne verquirlen und auf den Pfannkuchen schmieren. Im Gegensatz zu hier werde ich natürlich Vollkorn-Mehl für die Mehlspeise nehmen. Und frisches Obst statt die Dosen-Plürre hier. Aber lecker ist’s hier dennoch. Und groß. Großes Land, große Trucks, große Hamburger, große Pancakes. Alles groß hier.

Gegen Mittag komme ich los. Etwas spät, aber das macht nichts. Zelt und Klamotten können derweil trocknen, es hat erst am Morgen aufgehört zu regnen. Aber wirklich trocken werden die Sachen nicht – ich packe nass zusammen. Das sind allerdings gut ein bis zwei Kilo mehr Gewicht auf dem Rad. Und das in den Cariboos und mit meinen leeren Beinen…

Gegen fünf Uhr nachmittags erreiche ich 100-Mile-House und warte ein Gewitter ab, dem ich noch knapp davon fahren konnte. Im Visitor-Center lese ich meinen Mail-Eingang und schreibe ein paar Nachrichten nach Hause. Die Benutzung des Computers ist kostenlos – wie in allen Bibliotheken des Landes. Nachdem ich fertig bin und mich wieder abgemeldet habe, werfe ich einen Dollar in die Kaffeekasse. Das scheint ungewöhnlich zu sein, die ältere Dame hinter dem Tresen bedankt sich freundlich. Draußen hat sich die Luft merklich abgekühlt. Ich fahre los und merke, dass die Knie besser einen Wärmeschutz erhalten sollten. Wo kann ich nach hundert Metern Fahrt besser anhalten und mir meine Knielinge anziehen als bei Dairy Queen? Nirgenwo. Zur Belohnung, dass das alles so wunderbar geklappt hat mit dem Überziehen der Kniewärmer, genehmige ich mir ein Eis. Na ja, einfach nur ein Eis geht hier gar nicht. Das Ding, das ich ordere, heißt “Fudge Brownie Temptation Waffle Bowl Sundae”, wiegt 320 Gramm und erhöht meine heutige Kalorienzufuhr um 950. Effizienter geht das Ausgleichen von Vier-Stunden-Bergauffahrt-Energieverlust nicht. Der Super-Bowl ist eine frisch gebackene Zimtwaffel mit vier Erkern, die mit einem Teppich aus Schokolade ausgelegt ist. In die Mitte wird eine ordentliche Portion Frozen Yoghurt gelassen. Damit der nicht umfällt, stützen ihn einige Früchte in den zuvor erwähnten Erkern. Die widerum werden mit eigens dafür kreiertem Eis drapiert. Da das Auge bekanntlich mit isst und Schokolade auf dem Weltmarkt offensichtlich billig genug zu haben ist, wird – passend zum Waffel-Teppich – ein Überzug aus Schokolade appliziert. Aber nur auf den Gipfelgrat des Frozen Yoghurt. Die Erker erhalten als optische Unterstützung kleine Brownie-Würfel. Das Mädel hinter dem Tresen geht förmlich auf in ihrem Handwerk. Ich bestätige ihr Tun durch meine jahrelange Eis-Expertise und verweise auf den künstlerischen Gehalt dieses Werks. Sie freut sich, ich zahle knapp fünf Dollar plus zwei Quarters Trinkgeld und überlege, ob es jetzt dem Fudge Brownie Temptation Waffle Bowl Sundae gut gehen soll oder mir. Ich entscheide mich für mich, bleibe im Warmen und genieße nach der Optik den Geschmack.

Draußen empfangen mich Kälte und die Trucks. Draußen auf dem Highway überholen sich zwei von den Riesendingern auf eine Brücke, mir mit rund 50 Meilen entgegenkommend. Platz ist da irgendwie nicht allzu viel. Haben die mich nicht gesehen? Ich erinnere mich an meine Fahrt mit Randy, oben in Alaska. Die Jungs sind normalerweise ganz OK, sagte er, hätten alles im Griff. Darauf vertraue ich. Die beiden Ungetüme kommen näher, erst mir und dann sich selbst. Lassen mir so mein Leben. Ich schreie denen irgendwas hinterher, was mit ihren Müttern zu tun hat und bei den Rappern der Ghettos dieses Landes Umgangssprache ist.

Der Cariboo-Highway ist nach Meilen sortiert. Ich hatte mich schon beim Blick auf die Landkarte gefragt, warum die Orte hier numerische Bezeichnungen haben. Es ist wohl so wie mit den Straßen in den Städten: Wo die Kreativität nicht hinkommt oder der Mangel an historisch bedeutsamen Personen oder Partnerstädten groß ist, wird einfach durchnumeriert. Der Ort bei Meile hundert heißt eben 100-Mile-House. Eine Langlauf-Loipe bei Meile 99? 99-Mile-Trail. Baut man einen Bauernhof bei Meile 95, heißt der 95-Mile-Ranch. Ganz einfach. Von 100-Mile-House bis zur 95-Mile-Ranch geht es deutlich bergauf. Einstellige Tachozahlen zermürben mich. Vivaldi baut mich jetzt wieder auf. Ich versuche, den Rhythmus zu halten. Wenn ich bei Gang 2 der Rohloff den Vier-Jahreszeiten-Takt halte, zeigt der Tacho genau 6,8 km/h. Aber das Takttempo ändert sich hin und wieder bei dem alten Italiener. Das heißt, ich variiere mit den Streichern zwischen 5,9 und 7,4 km/h. Das kostet allerdings mehr Kraft als ein gleichmäßiger Tritt. Die Brandenburgischen Konzerte von Bach sind da besser geeignet. Der Rhythmus ist gleichmäßig und kraftschonender. Irgendwie hat sich auch ein Oratorium auf meinen Telefon-Chip verirrt – da ich beide Hände am Lenker habe und bergauf nicht in die Lenkertasche greifen will, um vorzuspulen, höre ich halt zu. Ich weiß gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Wenigstens ist der Rhythmus gut.

Auf dem Begbie Summit halte ich nochmal an, um das bis dahin Geschaffte zu genießen, auszuruhen und dann doch die “Vor”-Taste zu drücken. Mit “ora et labora” kann ich nicht viel anfangen, halte es da eher mit Kant: “Betet nicht, räsoniert!” Ein Auto mit zwei jungen Amerikanern hält ebenfalls. Sie müssen pullern, danach beginnen wir eine Unterhaltung. Sie sind kritisch gegenüber dem Tun ihrer Landsleute und würden sich gern mehr für den Erhalt der Welt einbringen. Radfahren wäre eine gute Alternative zum Autofahren, sage ich. Na ja, das wäre zu wenig, meinen sie. Al Gore wäre ein gutes Beispiel für ein Umdenken. Na ja, gut – er hat es geschafft, mit seinen Umwelt-Ideen gemeinsam mit dem Weltklima-Rat den Friedensnobelpreis zu erhalten. Aber ich bin der Meinung, dass Politiker Machtmenschen und letztlich doch Opportunisten sind. Auch Al Gore war in Vietnam, obwohl er den Krieg offiziell ablehnte. Warum geht jemand gegen seine eigenen Überzeugungen in den Krieg? Die beiden Amis sind überrascht, dass ich die Geschichte von Gore einigermaßen gut kenne. Das täte noch nicht mal die Mehrheit der US-Amerikaner. Ich erwidere, dass sich halb Deutschland gefragt hätte, wie jemand die Wahl zum Präsidenten des nach eigenen Angaben demokratischsten Landes der Welt verlieren kann, obwohl er die meisten Stimmen gesammelt hat. Und so haben wir uns dann eben auch mit dem Verlierer beschäftigt. Den “Gewinner” kannten wir ja zur Genüge…

Ich höre mir noch ein wenig an, was ich irgendwann allerdings laberig finde: Die Jungs fahren mit ihrem Auto durch die Gegend und klappern Millionäre ab, um Geld für “gute” Projekte zu sammeln. Ich empfehle nicht Vancouver als Ziel sondern Seattle, um dort Bill Gates anzubaggern. Der hat doch echte Probleme, sein Geld für “gute” Projekte unterzubringen. Vielleicht hat er ja was übrig und Seattle ist ja nicht allzu weit von Vancouver entfernt.

Es ist jetzt halb acht und nachdem die beiden Jungs weg sind, fotografiere ich die Szene nach dem Gewitter noch ein wenig. Es ist faszinierend, was das weiche Abendlicht mit der Landschaft macht. Und dass die Sonne nach den Wolken tagsüber jetzt nicht nur den Rücken sondern auch die Seele wärmt. Unbeschreiblich.

Ich beschließe, auf ein warmes Abendessen irgendwo in einem Ort oder auf einem Zeltplatz zu verzichten und stattdessen hier in der Nähe wild zu zelten und die Situation zu genießen. Brot mit Mandelbutter, Käse und Trailmix (Studentenfutter) sind ja schließlich nicht zu verachten.

Bei 70-Mile-House riecht es nach frisch verbranntem Wald. Die Waldbrände der letzten Tage sind also bis hier hoch gekommen. Bald sehe ich auch die riesigen abgebrannten Streichhölzer, die in der Erde stecken. Stelle mir vor, wie das ist, wenn ich von einem Feuer umzingelt werde. Dann kann ich nur hoffen, dass ich eine Schaufel finde und mich eingraben kann. Das sieht nicht gut aus hier.

Ich biege in einen Feldweg ein und fahre zwei Kilometer. Weg vom Highway, hin zur Ruhe, die ich an einem See finde. Heute übernachte ich im Paradies.

 

 

16. Juni 2009 – Will’Yum

Die ganze Nacht lärmten die großen Holzlaster mit Motorbremse oder Vollgas, ich konnte kaum eine Stunde durchschlafen. Ich fühle mich wie von einem dieser Monster überfahren.

Auf dem Weg zu den Waschräumen treffe ich Victor, einen älteren Amerikaner, der mit seinem Wohnmobil unterwegs ist. Wir kommen ins Gespräch. Victor ist stolz auf seine Söhne, die in den USA Karriere machen. Einer der beiden ist Informatiker und sorgt dafür, dass Victor technisch auf dem Laufenden bleibt. So besitzt er ein modernes Mobiltelefon für unterwegs und hat in seinem Haus einen Apple Computer stehen. Victor hat schon gefrühstückt und fragt mich, ob ich noch Milch bräuchte. Er selbst würde sie ansonsten wegschütten. Ich schlage ihm einen Tausch vor: Milch gegen Bilder. Victor gibt mir seine Mail-Adresse und ich genieße mein Frühstück mit Müsli und Milch statt mit Müsli und Wasser.

Ich beschließe, heute total locker zu fahren. Meine Beine sind leer. Die Hauptsache ist, dass ich keine Berge fahre, und so scheint das Streckenprofil von heute auch auszusehen.

Im Visitor Information Center empfiehlt mir eine der freundlichen Frauen, auf jeden Fall auf dem Highway zu bleiben. Die Straßen im Hinterland sind nicht beschildert und bei Lilloet lodern Waldbrände. Abseits der Highways gibt es keine Fluchtmöglichkeiten. Mit einem Blick auf meine Beine frage ich die Frau auch noch mal schüchtern, ob denn die Straßen im Hinterland einigermaßen flach verlaufen würden. Sie lacht mich an: in den Cariboo Moubnains gibt es keine flachen Straßen!

Ich schaue mich noch ein bisschen um: Die Visitor Information Center in Kanada sind sehr informativ eingerichtet. Die Leute hinter den Tresen sind in der Regel sehr freundlich und freuen sich, wenn ein Auswärtiger nach den Besonderheiten der Region fragt. So lerne ich noch etwas über Williams Lake.

Diese Stadt lebt von der Holzverarbeitung. Sie lebt von dem Kahlschlag, den die Kanadier im Hinterland produzieren. Möbelholz, Hausholz, Holzplatten, Holzschnitzel, alles wird produziert und via Bahn und Truck verfrachtet. Die Trucks fahren 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das habe ich letzte Nacht gemerkt.

Der Name dieser Stadt kommt von Will’Yum, einem alten Indianerhäuptling. Die Indianer dieser Region flüchteten früher vor der Kälte und der Unerbittlichkeit des Winters hierher, weil es hier am Fraser River milder ist als in den Bergen und es hier auch im Winter noch Tiere zum Jagen und Fangen gab.

Heute ist dies ein Ort der Weißen, die Indianer erhalten ein kleines Areal zum Leben. Die “Häuser” im Williams Lake Indian Band sehen aus als wären sie Baracken für die Wächter der Müllhalden, die sie umgeben.

Die Menschen der Secwepemc-Nation leben bereits seit über viertausend Jahren hier. Deren Kultur war immer auf die Wanderungen mit den Jahreszeiten ausgelegt. Jetzt müssen die indigenen Völker Amerikas nicht mehr wandern – sie leben häufig von Sozialhilfen. Ich bin jedes Mal wieder verstört, wenn ich an diesen Indianer-Siedlungen vorbeifahre. Beobachte häufig achtlos weggeworfenen Müll, kaputte Autos, ungepflegte Häuser. Die Indianer-Gemeinden sind in der Regel selbstverwaltet. Somit sind diese Menschen für ihre Umgebung selbst verantwortlich und scheinen es hinzunehmen, dass sie im Müll leben.

Ich frage mich, ob meine Abscheu, mit offen sichtbarem Müll zu leben, aus meiner Kultur herrührt oder ob es nicht ein allen Menschen inherentes Interesse gibt, das uns dazu bringt, aufzuräumen und “es ordentlich” zu haben.

Öffentlicher Müll und Unordnung gehen zumeist einher mit Armut und sozialer Ausgrenzung. Man könnte meinen, ärmere Bevölkerungsschichten könnten die Müllabfuhr nicht bezahlen. Aber sie könnten sich selbst organisieren. Oder doch nicht? Könnten die Indianer nicht auch die Infrastruktur der Weißen nutzen? Oder gibt es Annährungsprobleme zwischen den First Nations und den Invaders?

Ich könnte für die Indianer noch anführen, dass sie traditionell nie Müll produzierten und alles was sie durch die Jagd erbeuteten oder in der Natur sammelten, verwendeten. Selbst die Gräten der Fische wurden als Nadeln eingesetzt. Und das, was übrig blieb, konnte vergraben oder liegengelassen werden, da es aus der Natur und nicht aus einer Chemiefabrik der Weißen kam.

Aber zählt das heute noch als Entschuldigung? Ich bin kein Soziologe und habe mich zu wenig mit der Geschichte und den aktuellen Problemen der Indianer Nordamerikas beschäftigt, um sauber argumentieren zu können. Insofern bleibt es bei Beobachtungen und meinen Interpretationen. Ich bezweifele, dass meine Interpretationen angemessen sind und versuche, sie auf ein Minimum zu reduzieren.

Auf dem Highway 97, dem Cariboo-Highway, komme ich wieder mit den Lastern zusammen. Furchtbar. Furchtbar laut, furchtbar stinkend, furchtbar gefährlich.

Ich stöpsel mir die Ohrhörer rein und stelle Peter Gabriel auf Truck-Wettbewerb-Lautstärke. Shaking the Tree. Ich bin zwar keine Frau und lebe auch nicht in Afrika, aber es ist trotzdem mein Leben und – ja – this new life has begun. Turning the tide, you are on the incoming wave. Turning the tide, you know you are nobody’s slave. Genau. Weder der der Gesellschaft noch der der Konventionen. Weder der meiner Gefühle noch der meiner Zwänge. Zum Glück brauche ich mir sowas nicht mantrahaft vorsingen und darüber bin ich auch echt froh. Aber hin und wieder ist ein bestärkender Impuls wohltuend. Und so fahre ich fröhlich neben den Lastern, Trucks und Motorhomes. Mich fragend, warum eigentlich so viele Menschen auf ein besseres Leben warten, wo sie doch einfach nur einsteigen müssten.

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Der Traum vom flachen Land in den Cariboo Mountains ist ein Albtraum. Nach zwei Stunden und 45 Minuten im ersten Gang der Rohloff mit dem 42er Ritzel vorn habe ich genau 34,8 km geschafft. Und? Egal: Geile Lanschaft, gute Fotos, schönes Leben.

Kühe gucken mir zu, ich gucke ihnen zu und lasse mir meinen Hintern für ein paar Portraits kanadischer Kühe zerstechen.

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Bryan Adams besingt gerade den 69-Sommer als die besten Tage seines Lebens.

Klar – ich frage mich natürlich sofort, wann ich denn die besten Tage meines Lebens hatte. Thanks to Bryan. Ich will nicht ganz so pathetisch sein, wie ein Kanadier, der mit seinem Pathos viel Geld verdient. Aber dennoch macht es Spaß, mal darüber nachzudenken. Im nachhinein erinnere ich mich sehr gerne an die Zeit der Oberstufe. Klassen zwölf und dreizehn des Gymnasiums in meiner kleinen Heimatstadt.

Das war die Zeit der Unbekümmertheit, der Freiheit. Partys feiern, Motorradfahren, nach der Schule abhängen und über ideale Regierungsformen diskutieren. Noten waren mir sowas von egal. Lehrer waren grundsätzlich erstmal Teil des Systems und insofern abzulehnen. Mädels kamen und gingen, bloß nicht festlegen. Ich war 18, konnte mir meine Entschuldigungen selber schreiben und fuhr mit dem Motorrad zur Schule, wenn ich Lust hatte. Verblüffend war, dass ich zu der Zeit die besten Noten erhielt. Ich habe noch einen alten Holzkasten bei mir irgendwo im Keller stehen. In dem sind Briefe, die ich schrieb und erhielt, Zeugnisse, Strafzettel, Plattencover, Eintrittskarten, die leere Hülle einer Patentex Oval (gibt’s das heute eigentlich noch?), und so weiter.

Ich überlege, ob ich meinen Kindern einen solchen Kasten aus Holz baue, in dem sie auch wichtige Reliquien ihrer Zeit aufbewahren können.

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Am Lac la Hache buche ich ein Slot auf einem privaten Zeltplatz. Im Ami-Highway-Restaurant gegenüber esse ich den größten Hamburger meines Lebens. Er hat Pizza-Format. Die Frau, die mich bedient, ist gleichzeitig erfreut und erstaunt, dass ich ihn geschafft habe und sogar noch ein Eis zum Nachtisch bestelle.

Was noch? Keine Moskitos! Dafür aber ein Zeltplatz zwischen See und Highway.

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Ich fürchte, die Laster werden mir heute nacht wieder durch’s Zelt fahren. Aber ich habe je meine Ohropax und bin ziemlich müde.

15. Juni 2009 – Williams Lake

Ich glaube, das war der anstrengendste Tag bisher. In den ersten 3 Stunden habe ich genau 33 km geschafft: hoch, runter, hoch, runter, steil! Am Fraser River entlang ist es zwar wunderschön, aber Radfahrers Paradies ist das nicht.

Ich überquere eine Brücke über den River und fahre auf der Williams Lake Road in Richtung des berühmten Stampede-Orts. Kurz vor dem Ort erwischt mich ein heftiges Gewitter. Ich weiß gar nicht wie schnell ich mich irgendwo unterstellen soll, und kann mangels Gelegenheit auch nicht. Schnell werfe ich meine Zelt-Unterlage über mich und das Rad und ducke mich ins schützende Dunkel. So etwas hatte ich bisher auch noch nicht: Der Wind reißt an der Plane, der Regen prasselt auf die Plane. Durch aufwärts spritzenden Regen werde ich von unten nass. Zum Glück ist nach circa 20 Minuten alles vorbei und die Sonne scheint wieder.

Ich nehme mir einen Zeltplatz direkt auf dem Gelände der berühmten Stampede. Das ist wohl ein großes Volksfest hier, verbunden mit Rodeos und sonstigen Rind- und Pferde-Veranstaltungen. Die Leute sind schon leicht nervös hier, da die Veranstaltung in zwei Wochen beginnt. Ich selbst bin ja kein Freund von solchen Volksbelustigungen auf Kosten von Tieren. Allein, wenn ich mir vorstelle, dass den Bullen die Hoden abgebunden und gequetscht werden, damit sie ordentlich springen, spüre ich schon einen Phantomschmerz an einer meiner empfindlichsten Körperstellen.

Die Stadt ist ebenfalls ein Verkehrsknotenpunkt und ein Zentrum der kanadischen Holzindustrie. Entsprechend laut ist es hier auf dem Zeltplatz. Aber damit kann ich gut leben, denn: es gibt keine Mücken! Endlich mal wieder in Ruhe Zelt aufstellen, umziehen, duschen, kochen, essen.

Mein Essen kaufe ich bei “Save on Foods”, einer großen kanadischen Lebensmittel-Handelskette. Die sind ähnlich hochwertig sortiert wie “Tegut” in Hessen, nur größer. In solchen Läden gehe ich gerne einkaufen: Man muss nicht suchen und vergleichen, kann einfach das, was im Regal liegt und worauf gerade Lust ist, in den Einkaufswagen packen, ohne die ganzen Inhaltsstoffe studieren zu müssen. Auch wenn das Image der Kanadier und Amerikaner bezüglich des Essens nicht allzu gut ist – an den Möglichkeiten, gutes Essen einkaufen zu können, liegt es nicht. Das meiste für den täglichen Bedarf gibt es auch in Bio-Qualität.

Schokolade und Erdbeeren treiben den Preis, den ich an der Kasse zu zahlen habe, in astronomische Höhen. 60 kanadische Dollar sind es schlussendlich. Egal, die Motivation, weiter in den Bergen zu radeln, ist momentan recht niedrig und da wird jede Aufmunterung gebraucht, insbesondere kulinarische.

Eins fällt mir beim Einkaufen immer wieder auf: Haribo können die Amis und Kanadier nicht. Sämtliche Gummibärchen, Weingummis, Lakritze und sonstige Weichzuckereien schmecken hier einfach nicht so gut wie bei uns. Dafür können Sie Farben. Lila Gummibärchen schmecken nach lila. Gelbe Gummibärchen schmecken nach gelb. Schwarze Gummibärchen schmecken nach schwarz. Keine Ahnung, wie die das hinkriegen.

Nach dem Essen gehe ich noch ein wenig spazieren und lege mich dann aber auch schnell ins Zelt. Die Motorbremsen der großen Trucks werden wohl den halben Zeltplatz heute nacht wach halten. Ohropax rein und gut. Morgen Abend ist wieder Wildnis angesagt.

Ich frage mich gerade, warum ich Alaska und Yukon der jetzt immer näher kommenden kanadischen Zivilisation bevorzuge. In British Columbia habe ich noch keine echten “Typen” gesehen, wie in Alaska oder Yukon. Typen, die irgendwie schräg sind. So ähnlich wie ich, nur anders. Hier ist alles ähnlich wie bei uns: Alle beschäftigt, Straßen voller, keine Rücksicht, kein Interesse mehr, keine echten Sympathien mehr wie im Norden. Ich bezweifele, dass mir Jasper- und Banff-Nationalpark wirklich Freude machen. Glaube, dass es mir mehr liegt, noch ein paar Touren in Alaska und Nord Kanada zu unternehmen. Vielleicht auch mal zu Fuß mit dem Rucksack.

Egal, jetzt werde ich das bis Vancouver durchziehen. Überhaupt: Dafür, dass ich solch eine Tour zum ersten Mal mache, komme ich erstaunlich gut klar. Obwohl ich noch zwei Wochen habe, plane ich schon die nächsten… Whitehorse – Klondike – Denali – Parks – Anchorage oder andersherum. Oder Fairbanks – Wonderlake – Denali – Klondike – Whitehorse. Oder Whitehorse – Klondike – Dempster. Alles so Drei-Wochen-Touren mit dem Rad. Mal sehen…

Meine wunden Stellen und die Mückenstiche werden jetzt noch mit dem abendlichen Dr.-Burt’s-Einreibe-Ritual versorgt. Das hat etwas zeremonielles, etwas heimeliges und sorgt dafür, dass ich mich von mir selbst versorgt fühle. Ich wünsche mir eine gute Nacht.

14. Juni 2009 – DEET gegen den Wahnsinn, Radfahrers Traum

Sonntag. Unmengen von Autos, Trucks und Motorhomes fahren in Richtung Barkerville. Alle überholen mich. In vielen sitzt Daddy mit Cowboyhut auf dem Kopf. Sohn auch.

Ich brauche nicht lange überlegen, bis ich umdrehe – zurück nach Quesnel.

Auf einem Bergabstück rolle ich mit gut fünfzig Sachen runter, als plötzlich hinter einer Kurve direkt vor mir ein Schwarzbär auf der Straße steht. Ich rufe, schreie ihn an – habe keine Lust auf Bremsen und Bären erschrecken. Zum Glück ist er scheu und rennt wieder in den Wald. Zum Glück sind diese Tiere wieselflink. Wenn man allerdings Mann gegen Bär steht, wird zumindest dieses Glück zum Pech.

In Quesnel überquere ich die Brücke über den Fraser River wieder und fahre rechts des Flusses über eine kleine Nebenstraße Richtung Süden. Auf der anderen Seite führt der Cariboo Highway am Fraser entlang.

Ist das herrlich. Die Straße ist fast autofrei und ich habe einen wunderbaren Blick links auf den Fluss und rechts in das hügelige Hinterland.

Nach gut zwanzig Kilometern überquere ich einen kleinen Bach und dann geht’s hoch. Ich meine: Richtig hoch. Ich ahne schon, was da auf mich zukommt…

Gleich an der ersten Steigung rutscht die Schaltung wieder durch. Das heißt: Absteigen und schieben.

Die ersten zwei, drei Stiche auf den Beinen lasse ich noch geschehen – während ich schiebe, kann ich den Lenker nicht loslassen, um die Moskitos zu erschlagen.

Es ist nicht mehr weit zur nächsten flacheren Stelle – da reicht dann der achte Gang der Rohloff zum Radeln und den Moskitos davonfahren.

Hinter einer Kurve dann die Serpentinen.

Oh Mann, ey! Lasst mich in Ruhe! Scheißviecher! Drecksmücken! Ich fluche, ich schreie sie an. Während ich schiebe. Es ist so steil, dass ich kaum schieben kann.

Ich schwitze unter meinem Hut mit Mückennetz. Ich japse nach Luft in der Hitze des Frühsommers. Meine Beine tun weh vor Laktatüberfüllung. Beide Hände sind am Lenker. Mein Oberkörper neigt sich bergauf, um das Rad zu schieben. Wenn auch nur eine einzige Hand den Lenker loslässt, fallen Rad und Fahrer einfach um.

Ich sehe sie starten und landen. Direkt vor mir auf meinen Armen. Ich fühle sie pieksen an Armen und Beinen. Ich schreie sie an, hoffend, dass die Schallwellen sie fortjagen. Ich schmeiße die Fuhre am Straßenrand ins Gras, hole mein DEET-Spray raus und sprühe mich ein. Sie haben’s geschafft. Was ich nie wollte, mache ich nun. Dieses Teufelszeug an meine Haut lassen. Aber es ist mir einfach nur egal. Schietegal. Extremschietegal. Ich lasse mir von diesen kleinen Viechern doch keine Psychose verpassen.

Und was soll ich sagen?

Es wirkt. Meine Beine, meine Arme sind ab sofort keine Landebahnen für fliegende Blutsauger mehr. Teuer erkaufter Frieden – ich will nicht wissen, was da jetzt mit meiner Hautflora und -fauna passiert.

Nach rund fünf Kilometern und gut dreihundert Höhenmetern erreiche ich ein Hochplateau, das mich für all die Strapazen entschädigt. Radfahrers Traum. Wunderbar.

Ich halte inne, schaue an meinen Beinen runter, sehe die Bissspuren und denke nochmal über diese Extremsituation von vorhin nach. Bemerkenswert, zu was der Mensch (ich) doch in der Lage ist (bin). Diese Schiebestrecke mit der Fuhre trotz Kraftlosigkeit ohne Pause mit dem Psychomückenterror bei der Hitze hochächzen – da kann man(n) in meinem Alter oben auch schon mal tot umfallen.

Ich denke noch nicht richtig zu Ende, da taucht wieder ein Schwarzbär vor mir auf. Steht auch wieder mitten auf der Straße – wie der von heute morgen. Ich rufe ihn an, er sieht mich und will in den Wald. Sein Problem und auch meins ist, dass da links und rechts am Straßenrand Zäune gezogen sind. Stacheldraht-Zäune. Der Bär rennt von links nach rechts nach links nach rechts und findet keine Lücke. Ich fahre langsam hinter ihm her. Nach sechs oder sieben Anläufen findet er dann wohl eine Lücke und verschwindet.

Am späten Nachmittag belohne ich mich mit einem wunderschönen Platz, an dem ich mein Zelt aufstelle. Direkt an einem Steilhang über dem Fraser River.

Mit zwei Litern Wasser aus den Aluflaschen dusche ich das DEET ab und fühle mich gut.

Das Schöne am Alleinsein in der Natur ist ja auch: Iss was Du willst (Knoblauch-Knolle), iss wie Du willst (schlürf, schmatz – was im Übrigen den Geschmack feiner macht), iss so viel Du willst (rülps) und mach einfach nur, wonach Dir gerade ist. Das genieße ich.

Nach dem Sonnenuntergang liege ich im Zelt und höre den Moskitos zu. Hört sich an wie ein Zweitakt-Motorrad-Rennen in Spa Franchorchamps. Da war ich mal, als Freddie Spencer noch unschlagbar war. Muss Anfang der Achtziger gewesen sein. Gut, dass die Viecher draußen sind und Hilleberg beim Zeltbau einen guten Kompromiss zwischen Mückenschutz und Lüftung gefunden hat. Wenn die Evolution diesen Viechern irgendwann mal Schneidwerkzeuge für Zelt-Mückennetze verpasst, gebe ich auf. Dann bleibe ich in Niedersachsen.

13. Juni 2009 – Emotionale Ausnahmesituationen

Auf meinem Weg vom Nachtlager zurück zur Forststraße sehe ich, dass es hier auch Elche gibt. Ein riesiger Unterkiefer liegt vor mir auf dem Weg.

Eins weiß ich: Gestern abend, als ich diesen Weg schon mal fuhr, lag dieser Knochen noch nicht hier. Also gibt es hier nicht nur Elche.

So fünf bis zehn Kilometer Schotterpiste sind ja gut und OK. Mache ich alles mit. Aber fünfzig, hundert? Ich bin jetzt bei Kilometer siebzig nach Baldy Hughes und immer noch Gravel.

Dieses permanente Hoch und Runter schlaucht total. Wenn ich dann mal wieder irgendwo auf einem Hochplateau angelangt bin, höre ich in der Ferne wieder das Rauschen eines Baches und weiß: Da musst Du wieder runter, weil die Bäche unten fließen und die Brücken nur so kurz wie möglich sein können in dieser Wildnis hier.

Klar – wenn ich tausend PS unter der Haube habe, ist mir das egal, ob’s hügelig oder eben ist. Und die tausend PS brauchen diese riesigen LKW auch, die hier hin und wieder Baumstämme abtransportieren. Laut sind die Dinger – das kenne ich so nicht, fahre jedesmal rechts ran, wenn einer von hinten oder vorn kommt, halte an und mir die Ohren zu.


Wenn ich allerdings länger als ein, zwei Minuten anhalte, dann kriegen sie mich. Die Moskitos, meine ich. In Alaska waren sie ja schon nervig, aber hier? Solche Mengen kenne ich nicht. Sie totschlagen nutzt schon gar nichts mehr. Ich sah mal ein Interview einer Reporterin mit einem Lappen oben in Finnland im Sommer. Die Reporterin war bestens gegen die Moskitos ausgerüstet, Ihr Gesprächspartner hatte offensichtlich eine Lederhaut im Gesicht. Diese Viecher surrten so um seinen Kopf rum, setzten sich ständig auf Wangen, Nase, Stirn, Lippen – es störte ihn überhaupt nicht. Nur wenn sie in seine Augen krabbelten, dann wischte er so nebenbei mal kurz das Insekt weg. Aber stören tat ihn das auch nicht so wirklich.

Ich wünsche mir in diesem Augenblick die Gelassenheit und die Haut eines sechzigjährigen Finnen aus den Sümpfen des Polarkreises.

Ich frage mich, warum ich das eigentlich mache. Warum ich mich diesem Widerstand gegen mich aussetze. Diese Natur will mich nicht hier haben. Ich gehöre nach Europa. Mit meiner weißen Haut und meinen blonden Haaren und meinem Organismus ins sonnenarme Niedersachsen. Ich bin gemacht für Äpfel, keine Kiwi. Haselnüsse, keine Erdnüsse. Vier moderate Jahreszeiten, keine Hundertgrad-Unterschiede zwischen Sommer und Winter.

Wenn es keine Flugzeuge oder Schiffe gäbe, wäre ich ja auch gar nicht hier.

Da frage ich mich, ob es richtig ist, zu reisen. Ich meine nicht so, wie ich reise sondern wie die Touristen reisen. Oder noch einen Schritt weiter: Ist es richtig, seine angestammte Region auf dieser Erde zu verlassen und andere Regionen zu bevölkern?

Zu was führt das? Ich fahre durch ein Land, in dem genau das seit dem siebzehnten Jahrhundert zu einer Ausrottung von Kulturen und einer Umweltnutzung und -zerstörung ohne Maß geführt hat.

Der Anteil der indigenen Bevölkerung in USA und Kanada ist mittlerweile verschwindend gering. Und die Traditionen und Kulturen der Natives existieren auch bloß noch in Büchern oder vor Touristen.

Hin und wieder mal ein Indianer-Museumsdorf, hin und wieder mal eine selbstverwaltete, runtergekommene Kommune.

Ich glaube, dass ich als Reisender fragend und beobachtend durch die Welt reise. Nicht antwortend und missionierend.

Welche Ignoranz muss Menschen begleiten, die von sich meinen, sie wüssten das Richtige, glaubten das Richtige, täten das Richtige. Das Richtige, das für alle das Richtige sei. Das Richtige, das allen Heil, Wohlstand und Glück brächte.

Ich hoffe, dass die Moskitos und Blackflies die Conquistadores vor vierhundert Jahren genauso gequält haben wie mich. Ich jedenfalls will kein Conquistador sein. Eher Visitador.

Und wieder kommt mir so ein brüllendes Monster entgegen. Beansprucht die Forststraße komplett, die für es gebaut wurde. Ich fahre früh genug rechts ran, halte mir die Ohren zu. Als der Truck auf meiner Höhe ist, hält er. Der Fahrer schaut aus seinem geöffneten Fenster mit einem Hauch von Mitleid zu mir herab.

Die Amis fragen – wenn sie denn mal halten – einen Radfahrer immer ganz höflich, ob alles in Ordnung sei. Und das scheint echt und ehrlich zu sein. Hier in der Wildnis und auch oben in der Weite Alaskas kann Hilfe überlebensnotwendig sein.

Also auch hier: “Ev’rything OK?”

“Yeah, thanks!”

“Whereya from?”

“Germany!”

“And whereya comin’ from?”

“Alaska!”

“You don’t look like bee’n crazy!”

“I’m about get’n crazy with the moskitos!”

“Oh yeah – it’s not usual this year!”

Hah – da ist es wieder: “Not usual!”

Ich frage noch kurz, ob ich auf dem richtigen Weg sei – nach Quesnel. Bin ich. Immer gerade aus, der Straße nach. Noch ungefähr zwei Stunden.

Ich frage erst gar nicht nach der Entfernung in Kilometern. Sie können ja nicht mit sechzig Meilen hier durchbrettern (obwohl…) und so komme ich auf rund fünfzig Kilometer.

Die Menschen hier ernten den Wald rigoros und generalstabsmäßig. Überall sind Parzellen-Schilder, auf denen steht, wann geerntet und wann wieder aufgeforstet wurde. Mir fällt auf, dass das ziemlich langsam geht mit dem Wiederaufforsten. Hier sind die klimatischen Verhältnisse insbesondere im Winter nicht gerade so, dass die Bäume rasend schnell wachsen. Vor fünfundzwanzig Jahren wiederaufgeforstet und alles was ich sehe, ist eine Schonung mit ein paar mickrigen Bäumchen drauf.

Die Athmosphäre hier hat etwas Düsteres – trotz Sonne und blauem Himmel. Ich überlege, ob ich die Bilder, die ich hier fotografiere, so verändern kann, dass die Stimmung rüberkommt. Passt zwar nicht so ganz zum “Reporter-Ethos”, aber ich muss mich ja nicht immer dran halten.

Die Verkarstung des Bodens – auf solchen riesigen Flächen gerodet – schreit sogar mich als Flora-Legastheniker an.

So langsam mache ich mir Sorgen um meinen Wasservorrat. Ich habe zwar einen Wasserfilter dabei, aber wenn es noch nicht mal Pfützen gibt hier im Wald, dann kann ich auch nichts filtern. Am letzten Bach bin ich auch schon lange vorbei. Das ist ein komisches Gefühl, mir vorzustellen, ich hätte gar kein Wasser mehr und müsste noch viele Kilometer fahren.

Ich glaube, ich würde auf einen absolut niedrigen Anstrengungslevel zurückfallen. Aber schieben würde ich nicht – da müsste ich ja mein eigenes Gewicht auch noch selber tragen. Aber das ist hoffentlich heute kein Thema. Ich rationiere mir mein Wasser und trinke alle viertel Stunde einen Mund voll.

Nach einigen Kilometern komme ich zum Blackwater-Fluss, wo ich eine meiner leeren Alu-Flaschen mit Wasser fülle – falls ich innerhalb der nächsten Stunden an kein frisches Wasser komme, muss ich eben filtern. Kurz, nachdem ich den Blackwater-Fluss im Wald überquert habe, komme ich aber zur Blackwater-Road und habe nach ziemlich genau 100 Kilometern wieder Asphalt unter den Reifen. Yippieh!

Ich fotografiere mein Fahrrad mit dem Vorderrad auf Asphalt und dem Hinterrad auf Gravel und zurückblickend das Schild, was so typisch ist für die vergangenen Tage.

Also wieder zurück in der Zivilisation. Ich Weichei. Scheißzivilisation, Scheißberge, Scheißmoskitos, Scheißrohloff. Ich weiß momentan nicht was ich eigentlich will. 105 Kilometer durch Hitze, Staub, Moskitoschwärme ohne ausreichend Wasser und mit nicht funktionierender Gangschaltung in hügeligem Gelände mit einer 60-Kilo-Fuhre. Okay – da darf ich auch mal missmutig sein. Ich kenne mich – das legt sich schnell wieder. Bin ja auf Glückssuche, nicht auf Unglückssuche.

Kurz vor Quesnel fahre ich auf einer alten Holzbrücke über den Frazer River. Den werde ich jetzt eine ganze Weile begleiten – bis nach Vancouver.

In Quesnel fülle ich meine Wasserreserven wieder auf, kaufe ein und entscheide mich, in das berühmte Cowboy-Städtchen Barkerville zu fahren. Das wird mich rund einen Tag kosten, aber ich habe ja noch ein paar Tage in Reserve.

Raus, Richtung Barkerville, steht auf einer verlassenen Tankstelle so ein Riesentruck mit lauter verschrotteten Autos drauf.

Das System nährt das System.

Ginge es nach mir, würden hier nur noch Laster mit solcher Ladung rumfahren. Bis sie arbeitslos wären. Und sich dann gegenseitig abtransportieren.

Auf halber Strecke will ich nur noch ein Lager. Finde aber keins. Dieses Sträßchen nach Barkerville führt ständig durch Mini-Dörfer und an Gehöften und Weiden vorbei. Keine ruhige Waldstraße, kein Feld, auf dem ich campen könnte.

Die Rohloff spinnt mal wieder und es geht permanent bergauf, bergab. Bergauf muss ich schieben. Ich könnte kotzen. Ich fahre einen kleinen Stichweg in den Wald, will durch eine Pfütze fahren und genau in dem Augenblick rutscht die Rohloff durch. Ich falle um, in die Pfütze und fluche nur noch. Dann kommen die Mini-Stukas. Wow. Das ist jetzt das, was man gemeinhin “Emotionale Ausnahmesituation” nennt.

Ich renne mit Rad knapp hundert Meter bis zu einer Lichtung, schmeiße die Fuhre ins Gebüsch, ziehe meine Regensachen an und beginne mit dem Zeltaufbau. Ich habe null Bock auf Kochen, wasche mir kurz den ganzen Dreck ab, hänge die Klamotten auf und lege mich ins Zelt. Die Moskitos bleiben draußen.

Heute abend müssen Brot und Erdnussbutter reichen. Ich hatte mir in Quesnel mal Würstchen aus Schweinefleisch gekauft. Wow – das schmeckt echt mies! Beef können sie von mir aus, die Amis. Aber Pork nicht. Nach dem Essen packe ich alles luftdicht ein, wickel meine Ortlieb-Rolltaschen fein säuberlich zusammen und schmeiße sie einfach in die Pampa. Hoffentlich weit genug weg vom Zelt, falls die Bären kommen.

Ich atme ein paar mal tief durch und bin froh, den Tag geschafft zu haben.

12. Juni 2009 – Arsen und Spitzenhäubchen und Shining

So – meiner nächtlichen Eingebung folgend habe ich mich endgültig für die Süd-Variante entschieden. Jasper und Banff mache ich irgendwann mal extra – vielleicht wie Rio empfohlen hat als Bestandteil der Great-Divide-Tour.

Das heißt: Ich fahre jetzt über Quesnel und den Sea-to-Sky-Highway direkt nach Vancouver. Kann sein, dass ich etwas früh dort bin, aber es soll ja eine schöne Stadt sein, die für einen Radler nach fünf Wochen auf dem Rad sicherlich etwas Abwechslung bieten kann.

Mein Fahrrad will nicht so richtig durch den engen Treppenaufgang passen und ich jongliere ganz schön rum. Die beiden älteren Damen an der Rezeption des Hotels schauen interessiert zu – gar nicht so sehr mit dem kritischen “Pass-ja-auf-und-mach-nix-kaputt!”-Blick sondern offensichtlich sich fragend, was das schwarze Ding da denn sei. Wie ein normales Fahrrad sieht das jedenfalls nicht aus.

Bevor sie mich weglassen, muss ich erst noch ein paar Fragen beantworten und mir anhören, dass der Enkel der einen auch immer so wilde Touren im Gelände macht – aber ohne Gepäck. Ich merke ein wirklich echtes Interesse an mir als Mensch. Auch, dass ich aufpassen soll auf die Bären, klingt besorgt. Letztes Jahr wäre ein Russe namens Ivanow hier in der Nähe von einem Grizzly getötet worden.

Das Gespräch mit den beiden erinnert mich an “Arsen und Spitzenhäubchen” – wie die beiden Schwestern gestikulieren meine beiden Empfangsdamen miteinander.

Ich verlasse Prince George in Richtung Westen auf dem Yellowhead – also Richtung “zurück”. Ich habe keine Lust auf viel Verkehr und will eine der Waldstraßen fahren, die auf meiner Karte gerade noch eingezeichnet sind. Baldy Hughes ist ein Ort, zu dem eine dieser Straßen führt.

Nach knapp 15 Kilometern habe ich immer noch keine Straße links ab gefunden. Ich werde stutzig und frage an einer Tankstelle nach Baldy Hughes. Der Kassierer fragt mich ob ich mir sicher wäre. Ziemlich sicher bin ich. Na ja, Baldy Hughes sei ein Irrenhaus, das von einem ehemaligen Politiker gemanaged würde, der wegen Drogendelikten zurücktreten musste und den man jetzt dorthin abgeschoben hätte.

Ich frage trotzdem nach dem Weg und muss eingestehen, dass ich schon rund drei Kilometer zu weit gefahren bin. “Blackwater Road” sagt der Kassierer, Richtung Prince George, nach zwei Minuten rechts ab.

Ich frage wieviel das in Meilen sei. Weiß er nicht. Hier wird in Minuten und Viertelstunden gerechnet. Auf Auto-Tempo bezogen.

Ich will nicht großartig insistieren und rechne. Zwei Minuten bei 50 Meilen pro Stunde, das sind rund 75 Kilometer die Stunde, durch 30 sind zweieinhalb. Gut – ist doch mal was.

Die Blackwater Road sieht eher aus wie eine Seitenstraße zu einem Grundstück – deshalb habe ich sie vorhin auch ignoriert. Jetzt fahre ich rein. Nach wenigen Kilometern bin ich endlich wieder in der Wildnis.

Die Moskitos begrüßen mich auch ganz aufgeregt. Ihre schwarzen Kumpels, die Blackflies, haben sie allerdings nicht dabei. Na wenigstens etwas.

Der Weg nach Baldy Hughes ist nicht ausgeschildert. Das lässt mich schon stutzen – die Blackwater Road fahre ich wohl. Dafür finde ich am Straßenrand ein Schild des “Prince George Rod and Gun Club”. Das Gelände hinter diesem Schild ist wohl eine Spielwiese für schießwütige Kanadier – jedenfalls würden alle verfolgt, die das Gelände betreten würden. Ich würde mich nicht wundern, wenn die aus fahrenden Trucks heraus auf irgendwelche Zielscheiben oder auch wilde Tiere schössen. Zwar sind die Waffengesetze hier in Kanada wohl etwas schärfer als in USA, aber ich kann zwischen beiden Nationen kaum Unterschiede in Haltung und Verhalten finden. Die Kanadier hätten den Unterschied zu ihren südlichen Nachbarn gerne größer als er ist.

30 Kilometer nachdem ich vom Yellowhead abbog, erreiche ich Baldy Hughes. Es ist heiß und staubig und ich will fragen ob ich Wasser nachfüllen kann.

Das Gelände hat etwas kasernenhaftes, ist allerdings nicht ganz so groß – vielleicht hundert mal hundert Meter. Ungefähr zehn Baracken stehen drauf, wobei sie ansprechend und gepflegt aussehen. Auf dem Parkplatz vor dem Haupthaus stehen Autos und Motorräder.

Ich gehe durch die offene Haustür und horche nach Stimmen.

Nichts.

Ich rufe: “Hello!”.

Nichts.

Nochmal: “Hellooho!”.

Nichts.

Eine Katze kommt und windet sich um meine Beine – will gestreichelt werden.

Und wieder erinnere ich mich an einen Film: “Shining”. Nicht ganz so lustig wie die Film-Assoziation heute morgen.

Da ich Wasser will, gehe ich ins Haus und schaue mich um. Das Büro ist verlassen, ansonsten gibt es nur Zimmer im Erdgeschoss. Ich gehe die Treppe runter, rufe nochmal. Kein Mensch zuhause. Unten im Keller finde ich eine Art Waschküche. Meine beiden Wasserflaschen sind schnell gefüllt, ich gehe wieder hoch und raus. Schaue nochmal zu den Nachbarhäusern, ob mich von dort vielleicht jemand beobachtet hat.

Ich bin mir bei den Amis eben nicht so ganz sicher – vielleicht sitzt irgendwer mit einem Gewehr im Anschlag am Fenster und hat mich im Visier.

Offensichtlich sind aber alle ausgeflogen – bei dem Wetter lädt der nahe Lynx Lake wahrscheinlich zum Baden ein.

Ich steige wieder auf mein Rad und fahre weiter. Der Fahrbahnbelag ändert sich allerdings genau hier. Die Straße wird zur Gravelroad – jetzt bin ich wirklich im Hinterland angekommen. Das erzeugt allerdings ein Problem, das ich bisher noch nicht hatte: Kreuzungen. Da es im Wald weder Wegweiser noch Haupt- und Nebenstraßen gibt, muss ich immer nach Gefühl und Orientierung abbiegen oder geradeaus weiterfahren.

Das Fahrgefühl selbst auf Gravel ist ordentlich – war von meinem Trekker auch nicht anders zu erwarten. Ich wundere mich immer wieder über die Haftung meiner Conti-Reifen, die in der Mitte völlig blank sind und nur an den Seiten ordentliche Stollen haben. Auf Asphalt laufen sie völlig ruhig und im Gelände greifen die Stollen da ein wo die Mitte ins Rutschen kommt. Gute Konstruktion.

Allerdings wird es jetzt auch hügelig und ich vermisse meine Rohloff-Gänge eins bis sieben.

Ich merke, dass ich im Ernte-Gebiet bin. Ganze Wald-Areale sind hier “harvested”, geerntet. “Kahlschlag” bezeichnet es besser. Wenn das Ganze einen positiven Effekt hat, dann den, dass ich mich an die wunderbaren Touren mit meinen Söhnen über die Höhenzüge des Schwarzwald erinnere.

Und es ist einfach, hier einen ruhigen Zeltplatz zu finden. Der Verkehr beschränkte sich heute auf genau vier Autos zwischen Baldy Hughes und dem Yellowhead. Sonst war ich allein.

Regenwolken ziehen auf, es ist sechs Uhr nachmittags und ich bin müde und hungrig genug für Abendessen und Nachtlager. Genau in dem Augenblick, in dem das Zelt steht, prasselt ein Hitzegewitter-Schauer auf mein Lager. Ich nutze die Gelegenheit, mich im Regen zu duschen. Herrlich. Zum Abtrocknen und Anziehen ins Zelt, kleines Nickerchen und nach einer guten halben Stunde ist der Himmel wieder blau.

Nudeln mit frischen Paprika und einer ganzen Knoblauchknolle köcheln im Topf über meinem Primus-Kocher. Hmm, lecker! Ich sehe zu, dass Paprika und Knoblauch nicht verkochen und mit den Nudeln gemeinsam “bissfest” sind. Das entfaltet erst in der Nase, dann beim Löffeln und dann nochmal beim Kauen jeweils unterschiedliche Geruchs- und Geschmacksreize. Und riechen muss mich hier sowieso keiner. Höchstens der Bär. Aber der ist auch schon satt, hat ja gerade einen Russen verspeist.

Dass das nicht ganz so lustig ist, haben mir schon vorher einige Recherchen im Netz gezeigt. Aber wenn ich mir ständig solche Gedanken machen würde, würde ich hier nicht essen und schlafen können.

Essen war lecker und jetzt geht’s in den Schlafsack. Endlich wieder. Um meinen Schlaf mache ich mir keine Sorgen.

10./11. Juni 2009 – Persönliches Feast, Bahnfahrt locker, Begegnungen

10. Juni 2009

“Hey George!”

“Hey George!”

“Hmmm…?” Ich schaue auf meine Uhr – es ist halb sieben.

“Hey George!”

“Yeah?”

“Morning!”

“Morning!”

Anscheinend ist in Matt ein Jäger versteckt – Jäger stehen früh auf. Ich ziehe mir was über und krabbel raus aus meinem Zelt.

“Nice day!” meint Matt

“Yeah!”

Ich kann noch nicht so viel reden so früh am Morgen.

Ich gehe zu ihm ins Haus und fühle mich vom Fernseher genervt, der den ganzen Tag läuft. Dabei ist das Programm gestört und der Ton ist völlig verrauscht. Matt schaut auch gar nicht hin. Na das wird was…

Nachdem ich im Bad fertig bin, hole ich Haferflocken, Erdnussmus, Studentenfutter und Honig aus meinen Radtaschen und koche uns ein nahrhaftes Frühstück. Matt kocht Kaffee und gibt die Milch dazu.

Sowas kennt Matt nicht – aber ihm schmeckt das offensichtlich sehr gut. Dennoch fehlt ihm Ahornsirup. Ein halbes Wasserglas davon landet dann schon noch auf seinem Teller. Gut – mir wäre das zu süß.

Ich frage, ob wir die Flimmerkiste ausschalten können – kein Problem. Ruhe. Schön.

Matt erzählt mir noch ein wenig von seinen Angel-Touren und zeigt mir stolz eine alte und schwere Taschenlampe. Ich erzähle ihm von den modernen Stirnlampen, die mit LED funktionieren, leicht sind, eine lange Batterielaufzeit haben und wasserdicht sind. Und da man sie um den Kopf trägt, hat man beide Hände zum Hantieren frei.

Das wäre eine gute Idee, sagt Matt.

Ich denke daran, dass ich heute noch nach Smithers fahre, dass es dort garantiert Outdoor-Läden gibt und ich mir eine neue Stirnlampe kaufen kann. Gehe raus ins Zelt, hole meine Stirnlampe rein und lege sie auf den Tisch.

Da liegt schon eine Holzmaske. Matt schenkt sie mir, sagt, er hätte sie selbst auf dem letzten Feast geschenkt bekommen. “Our spirit!” sagt er.

Ich sage, dass wir heute auch Feast machen und gebe ihm meine Stirnlampe. Matt freut sich wie meine Kinder letztes Jahr Weihnachten. Die Lampe hat für ihn einen großen praktischen Nutzen und eben die traditionelle Bedeutung, dass sie mit einem Freund getauscht wurde.

Ich selbst frage dreimal nach, ob ich die Maske wirklich mitnehmen könne.

“Sure!”

Nachdem ich mein Rad gepackt habe, binde ich die Maske vorn an meine Lenkertasche.

“Good spirit!” sage ich zu Matt. Der lacht.

Wir geben uns zum Abschied die Hand – wie zwei Männer – und für mich geht’s weiter, Richtung Osten, Richtung Smithers.

Matt wird selbst wohl wieder einen eher tristen Tag verleben in seinem Haus in Moricetown.

Die 40 Kilometer Landschaft bis Smithers sind eher landwirtschaftlich geprägt. Erinnern mich an Nordhessen: Weiden, Kühe, Pferde, geschwungene Hügel, Bauernhöfe. Nur Dörfer gibt es hier nicht. Dafür riesige Farmen mit mondänen Häusern drauf.

In Smithers selbst genieße ich erstmals wieder so etwas wie “Stadtathmosphäre”. Menschen, Läden, Möglichkeiten.

Kurz nach dem Ortsschild fahre ich auf den Parkplatz des ersten großen Supermarktes. Kaufe mir Süßigkeiten und Nüsse in der Bulk-Food-Abteilung.

Draußen packe ich die Sachen in meine Packtaschen, eine Frau spricht mich an. Sie ist ungefähr mitte dreißig, attraktiv. Sechs Kinder hat sie – wow! Die drei, die sie dabei hat, sind ruhig und schauen mich interessiert an. Ihre Fragen lese ich in ihren Gesichtern: Ungepflegter Bart, kurze enge Radhose, braungebrannt, mit einem Fahrrad unterwegs, was ist das für ein Typ? Ihre Mutter sagt, dass sie den Drang hatte, mich anzusprechen und mich als “Traumverwirklicher” bewundert. Nach einem kurzen Gespräch über meine Herkunft und meine Ziele streichelt sie mir kurz über den Arm und geht mit den Kindern in den Supermarkt. Huch… was war jetzt das?

In einem Outdoorladen kaufe ich mir eine neue Stirnlampe, in einer Bäckerei (sic) ganz leckere Donuts und sonstige Süßigkeiten, am Bahnhof Fahrkarten nach Prince George. Zwei Stunden habe ich noch bis der Zug fährt. Setze mich auf eine Bank im Stadtpark von Smithers, esse meine Leckereien und hole etwas Schlaf nach, den ich heute morgen abbrechen musste…

Der Dieselzug kommt pünktlich. Mein Fahrrad soll in den Gepäckwagen vorne. Ach Du meine Güte – die Türschwellen der Waggons sind so hoch und der Bahnsteig so niedrig, das ich nicht weiß, wie ich meine Rad-Fuhre in die Zug-Fuhre reinkriegen soll. Ein freundlicher Bahnarbeiter kommt und hilft mir.

Ich gehe nach hinten in einen Passenger-Coach und suche mir ein freies Plätzchen. Der Waggon ist ungefähr halb voll – nette Gesellschaft, ich setze mich an einen Tisch, am Tisch neben mir zwei junge Mädels.

Im Laufe der Fahrt nach Prince George lerne ich die beiden kennen – eine Schweizerin und eine Holländerin. Pia, die Schweizerin will auch mal die Panamericana abfahren, aber mit dem Motorrad. Ist hierher nach Kanada ausgewandert, weil sie sich in der Schweiz zu sehr eingezwängt gefühlt hat. “Alles so eng, räumlich und auch geistig.”

Die Pünktlichkeit der Schweizer geht ihr extrem auf die Nerven. Und dass alles geregelt sein muss.

Hier in Kanada nehme man es nicht so genau mit der Pünktlichkeit und überhaupt sei alles ziemlich locker, käme ihrem Naturell wesentlich näher. Lena, die Holländerin, meint, dass das in Deutschland doch auch so sei.

Ich fühle mich leicht herausgefordert und versuche, zu verdeutlichen, dass Pünktlichkeit ja nicht per se schlecht sei. Wenn ein Flugzeug einen Flugplan hat, der wiederum von anderen Flugplänen abhängt und der auch selbst wieder andere Flugpläne beeinflusst, dann ist es sinnvoll, den einzuhalten. Wenn dann eben ein Passagier zu spät kommt, hat der Pech und nicht 400 andere, die im Flugzeug warten.

Und eine Operndiva hat sicherlich auch keine Lust, bei einer ruhigen Arie im Konzert ständig durch Spätkommer gestört zu werden. Und ich glaube, dass da auch die Kanadier keinen Spaß mehr verstehen und die Lockerheit ihre Grenzen hat.

Jedenfalls hat die Lockerheit beim Einhalten des Fahrplans dieses Zuges hier keine Grenzen. In Deutschland ist es so, dass die langsamen Güterzüge in der Regel auf ein Nebengleis gestellt werden, wenn auf einspuriger Strecke ein Personenzug überholt oder entgegenkommt. Hier sind entweder die Güterzüge zu lang oder die Nebengleise zu kurz. Jedenfalls muss dieser Zug, in dem wir hier sitzen, permanent warten, bis wieder einer von diesen hunderte von Metern langen Mega-Zügen vorbei ist. Und da die Strecken hier offensichtlich noch aus den Wild-West-Cowboy-Zeiten stammen, ist der Begriff “zügig” hier nicht auf Güterzüge ausgerichtet.

Wir erreichen Prince George kurz vor Mitternacht mit siebeneinhalb Stunden Verspätung. Es ist dunkel. Alle werden von irgendwem abgeholt oder gehen in ein vorgebuchtes Hotel.

Nur ich soll mir jetzt einen Zeltplatz suchen? Schnickschnack. Ich entscheide mich, einen Ruhetag einzulegen, Materialpflege zu betreiben und gehe ins nächste Hotel. Eine ältere Dame begrüßt mich total freundlich, bietet mir ein Zimmer für 150 CDN-Dollar und zwei Nächte an. Ich versuche wieder, zu verhandeln, wie oben in Alaska, aber die Hoteliers hier in Amerika haben offensichtlich alle die gleichen Gene. 150. OK – ich zahle und genieße eine heiße Dusche und ein frisches Bett.

11. Juni 2009

Ruhetag: Spazierengehen, einkaufen, Material pflegen, Mails schreiben, essen, mit Leuten quatschen. Easy Living.

Das bemerkenswerteste an Prince George, einer zentrumslosen Business-Stadt, ist, dass sie mückenfrei ist.

Ich gehe nochmal meine Route durch. Jasper und Banff hatte ich mir vorgenommen, aber nicht erreicht. Dafür habe ich Ziele erreicht, die ich mir gar nicht vorgenommen hatte:

So viele tolle Menschen erlebt. Ich habe den Cassiar durchgehalten. Wildnis und Abgeschiedenheit lieben gelernt.

Ich kann mir gut vorstellen, dass ich noch mehr davon nur über das Wandern erleben kann. Ich wünsche mir, dass ich mehr Zeit hätte für eine solche Tour. Ich nehme mir vor, dass ich mehr Zeit haben werde für eine solche Tour. Dann werde ich Radfahren und Wandern kombinieren.

9. Juni 2009 – ‘Ksan, Gitxsan, Dakelh

Nachdem ich mein Zelt abgebaut und meine Sachen wieder auf dem Rad verstaut habe, gehe ich rüber zum historischen Dorf der ‘Ksan. So richtig verstehen kann ich den Unterschied zwischen ‘Ksan und Gitxsan nicht – vielleicht wird es auch nur als Synonym verwandt.

Mich interessiert viel mehr die Spiritualität, die in der Geschichte der Natives, der First Nations, der “Eingeborenen”, steckt. Die sie aber heute auch wirklich nur noch in Museen und Ausstellungen berichten können. Die Kultur der Nachhaltigkeit von früher, die auf einer tiefen Verwurzelung mit dem Geist der Erde, der Natur basierte, diese Kultur ist im Laufe der Degeneration der meisten Natives in den Großstädten und in den Reservaten oder selbstverwalteten Kommunen verloren gegangen. Übrig bleibt zumindest für mich hier und heute ein Appell an mich als friedlicher Reisender, dass ich doch mit offenem Geist und sanftem Herzen reisen soll.

Natives in Anchorage oder Whitehorse waren meist alkoholisiert, was anerkanntermaßen ein großes Problem für die Städte und die Natives ist. Auch auf dem Cassiar bin ich durch selbstverwaltete Kommunen gefahren, in denen es keine Müllabfuhr gibt, in denen sich niemand um auslaufendes Öl aus alten Autowracks kümmert.

Die Kultur der Nachhaltigkeit, in der alles geehrt und verwertet wurde, wurde bestimmt durch die Achtung des Geistes “unserer Großväter”. Die Weisheit der Alten wurde geschätzt, sie war die Gegenwart der Vergangenheit: “Walk on the Breath of Our Grandfathers.”

Der Großvater als Symbol des Vergangenen, aber noch Bekannten? Als Verbindung zur Geschichte, zu den Wurzeln? Kreislauf, großer Kreislauf – das ist immer wieder Thema, wenn es um die großen Fragen nach Herkunft und Bestimmung geht. Wir alle werden Vergangenheit sein, aber auch Zukunft.

In diesem Kreislauf sind wir Menschen nur ein kleiner Teil. Tiere, Pflanzen, Wasser, Luft – alles ist Teil dieses Kreislaufs und darin beliebig austauschbar. Tiere haben bei den Natives auch ganz besondere Bedeutungen. Das fasziniert mich besonders. Sie werden als Symbole für bestimmte Eigenschaften geehrt, die einem Stamm besonders wichtig ist.

Die ‘Ksan verehren insbesondere den Frosch, den Bären, den Raben und den Biber. Sie zeigen das mit ihrem Totempfählen. Der Frosch steht für Wasser und dessen Energie, Medizin, Wiedergeburt, Frieden und Kraft. Der Bär für den Wächter der Welt, für Mut, Willenskraft und große Stärke. Den Biber sehen die ‘Ksan als Symbol für Bestimmtheit, Baumeister, Beschützer.

Mir selbst imponiert der Rabe besonders. Ich habe schon immer ein besonderes Gefühl, wenn ich die schwarzen Vögel beobachte – vor allem, wenn sie in großen Scharen zusammen sind. Alan Parsons Projects “Tales of Mystery and Imagination”, Alfred Hitchcocks “Die Vögel”, Edgar Allan Poes “The Raven” und nicht zueltzt Otfried Preußlers “Krabat” haben mich sicherlich beeinflusst.

Auch bei den ‘Ksan steht der Rabe für Magie, für Zauber, für Selbstbeobachtung, Selbstbewusstsein und Mut.

Und genau in dem Augenblick, in dem ich darüber nachdenke, setzt sich ein Rabe auf den Totempfahl, der mir am nächsten ist.

Jedes Tier, das ein Native früher tötete, gab seinen Geist und Teile seiner Eigenschaften an den Jäger und an den, der Fleisch, Feder, Fell, Zähne oder sonstige Körperbestandteile zu sich nahm oder an sich trug, weiter. Die Natives dankten dem Tier dafür und verwerteten es komplett. Was nicht verwertet werden konnte, wurde verbrannt und so an den großen Kreislauf zurückgegeben.

Ich selbst gewinne aus der Idee von Kreislauf und Nachhaltigkeit auch für mich Kraft und Zuversicht. Nicht nur als bewusst handelnder Mensch sondern durchaus auch spirituell. Und kognitiv: Um denken und mich bewegen zu können, benötige ich Energie. Energie, die ich in Form von Nahrung zu mir nehme. Mein bewusstes und sogar unbewusstes Leben basiert also auf der Verwertung von Pflanzen, Eiern, Fisch, Fleisch, und so weiter.

Ein Wissenschaftler würde die Tatsache, dass eine Pflanze oder ein Tier in uns weiterlebt, in etwa so formulieren: Die in Form von Kohlenhydraten und Eiweißen gebundene chemische Energie unserer Nahrung wird im menschlichen Körper zu elektischer Energie zum Denken und zu kinetischer Energie zum Bewegen verstoffwechselt.

Nur kenne ich keinen Wissenschaftler, der sich bei seiner Nahrung dafür bedankt, dass er durch sie leben kann.

Ich bekomme durch den Besuch dieses historischen Dorfes eine Ahnung von der Achtung, mit der die Natives sich selbst und der Natur begegneten. Auf der anderen Seite weiß ich aber auch, dass sich benachbarte Stämme immer auch gegenseitig bekriegten und Feinde dermaßen folterten, dass es mir schwer fällt, das alles zu einem positiven Gesamtbild zu verknüpfen.

Ich selektiere das, was zu mir passt und bin zufrieden.

Was mir noch imponiert, ist die Idee der “Feasts”: Eine Art Flohmarkt, der regelmäßig stattfand und mit großen Festen gefeiert wurde. Dabei brachte jeder Einwohner etwas aus seinem Haus mit, was entweder doppelt vorhanden war oder was übrig war und was jemand anders brauchen könnte. Auch Essen und Trinken wurde mitgebracht. Alles wurde im “Feast-House” auf eine Bühne gelegt. Nach festgelegten Regeln konnten sich dann alle etwas von der Bühne mitnehmen. Der Eingang des Feast-House führte durch einen Totempfahl und war so konstruiert, dass nur eine Person gleichzeitig rein oder raus gehen konnte. Das sollte der Sicherheit vor Überfällen dienen und die Bewachung des Eingangs erleichtern.

Die Feasts wurden in der Regel nach den Toden von bedeutenden Einwohnern des Dorfes gefeiert und stellten auch eine Art Dankbarkeitsritus dar.

Im Museumsshop kaufe ich mir einen handgemachten Gürtel aus Leder. So habe ich ein Erinnerungsstück an diese Gedanken für meinen irgendwann wieder kommenden Alltag im Büro und zuhause.

Es ist Mittag, als ich Hazelton verlasse. Kurz vor dem Yellowhead finde ich eine Bank mit einem wunderbaren Blick auf die Seven Sisters – eine Berggruppe am Yellowhead Richtung Westen – und das Tal des Skeena River. Ich setze mich noch ein paar Augenblicke hin, um das Gebiet der ‘Ksan auszumessen und stelle mir vor, ich wäre einer von ihnen und würde hier über meine Jagdgründe schauen.

In New Hazelton direkt am Yellowhead kehre ich in ein “Restaurant” ein. Ich weiß gar nicht, was die anbieten, aber irgendwas werden die schon haben.

Ein total netter Hongkong-Chinese, der trotz 30 Jahren Aufenthalt in New Hazelton immer noch ein grottenschlechtes Englisch spricht, begrüßt mich mit dem typisch asiatischen Lächeln und bittet mich, Platz zu nehmen.

Ich frage nach seinen Spezialitäten. Als wenn es direkt aus einem Film über Vorurteile käme: “Wolm Maffin wit battel and salt”. Warme Muffins mit Butter und Salz. Hmm… Wie jetzt – warm? Ja – direkt aus dem Ofen, nicht aus der Mikrowelle.

OK. Ich bestelle zwei und eine große Tasse Kaffee.

Es dauert tatsächlich rund zehn Minuten, bis die Muffins vor mir auf dem Tisch stehen. Und was soll ich sagen? Es sind keine süßen Muffins, wie ich sie bisher kennenlernte sondern eher neutral mit einem etwas festeren Teig als sonst. Mit Butter und Salz jedenfalls lecker. Und gut für meine Kraftwerke in den Beinen. Noch etwas Zucker in den Kaffee und ich bin bereit für viele Kilometer.

Am Nachmittag kommen Regenwolken auf.

Ich bin kurz vor Moricetown und kann mir vorstellen, schon jetzt mein Zelt aufzuschlagen, um Schutz vor dem Regen zu haben. In Moricetown selbst wird der Himmel sehr dunkel und ich frage eine Frau auf dem Bürgersteig, ob es hier in der Nähe einen Campground gäbe. Sie versteht mich überhaupt nicht und ich will weiterfahren. Da sehe ich im Hintergrund auf einer Veranda eines kleinen Hauses einen Mann winken. Zuerst denke ich, er meint die Frau. Nachdem diese sich aber abgewendet hat und der Mann immer noch winkt – mich zu sich winkt, fahre ich hin.

“Hey, what’re you look’n for?” fragt mich ein ziemlich untersetzter Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem noch freundlicheren Lächeln. Ich suche einen Platz zum Zelten für eine Nacht, antworte ich. Matt stellt sich vor und bietet mir seinen Garten an – er habe ihn schließlich gerade frisch gemäht.

Das Angebot nehme ich gerne an und biete meinerseits an, das gekaufte Abendessen mit ihm zu teilen. In klassischer “Feast”-Tradition. Matt ist tatsächlich einer der First Nations, von den Dakelh People oder auch Carrier-Indianern.

Nachdem das Zelt steht, darf ich bei Matt duschen und während ich das tue, ruft er Kenny zu sich, der im Nachbarhaus wohnt. Beide sind ledig und wohnen jeweils allein. Bei Kenny kann ich dann meine Wäsche waschen und trocknen.

Matt und ich essen gemeinsam zu abend und er erzählt mir seine Geschichte. Arbeit? Hier? Fehlanzeige. Er lebt von ein wenig Stütze, von der Hilfe seiner Stammeskameraden und vom Fischfang. Im Skeena River und in nahen Seen haben die Natives ein unbegrenztes Recht, Fische zu fangen und zu verkaufen. Den Namen “Dakelh” oder “Carrier” haben sie, weil sie traditionell – wenn Väter oder Großväter starben – einige kleine Knochen oder Teile der Asche ihrer Väter oder Großväter in einem kleinen Rucksack auf dem Rücken tragen, solange sie um die Verstorbenen trauern.

So wie es im Dorf meiner Großeltern in Nordhessen Tradition war, während der Trauerzeit schwarz zu tragen, wenn ein nahestehendes Familienmitglied gestorben war.

Es ist schon interessant, in welchen Denk-, Glaubens- und Ritusmustern sich Kulturen aus unterschiedlichsten Regionen der Welt abgrenzen, aber auch gleichen.

Fast allen ist heutzutage gemein, dass die Vielfalt der Riten abstirbt.

Wir sorgen ja insgesamt dafür, dass Vielfalt abstirbt. Egal ob nun bei den Riten oder bei den Tier- und Pflanzenarten, beim Essen, beim Trinken, beim Informieren, beim Kinogehen, und so weiter: Je einfacher die Welt ist, desto komfortabler. Und mal ehrlich: Wer braucht schon Galloway-Rinder, wenn McDonalds die gar nicht verarbeitet? Oder wer braucht schon Frankfudder Äbbelwoi, wenn die EU den gar nicht subventioniert? Wer braucht schon wissen, dass er von Menschen belogen wird, die mit Bundeskanzler und Bundespräsident auf Du und Du stehen, Unsummen an Wahlkampfhilfen überweisen und dann per Gesetz protegiert werden? Wer braucht schon Charlie Caplins “Modern Times”, wenn in Hollywood mit 3D-Trash viel mehr Geld gemacht werden kann?

Nee, das könnte ja dazu führen, dass unsere Spaßgesellschaft gestört wird, dass wir räsonierten, mündig würden, und möglicherweise unbequem. Unseren Politikern Verantwortung für ihr Tun abfordern würden. Wer will das schon?

Matt bietet mir an, im Haus zu schlafen. Das lehne ich dankend ab und verabschiede mich nach draußen. Morgen früh wollen wir nochmal zusammen frühstücken bevor ich weiterfahre.

Das war ein glücklicher Tag für mich. Ich bin wo ich bin, bleibe wann ich will, fahre weiter wenn ich Lust habe. So macht das Leben Spaß.

8. Juni 2009 – Das Ende des Cassiar, der Anfang der zivilisierten Welt

Kitwanga. Das Ende des Cassiar, Beginn des Yellowhead. Ich bin völlig geschafft.

Eine kleine Kirche begrüßt mich am Ortseingang – mit einem echten Heiligenwölkchen drüber, wie gemalt. Das ist wirklich die einzige Wolke am Himmel – erstaunlich.

Als erstes fahre ich in ein Café. Bestelle mir zwei Donuts und zwei Muffins. Und einen großen Kaffee mit free refill. Da das Café erstaunlich klein ist und erstaunlich voll ist, setze ich mich an einen Tisch, an dem schon ein älteres Ehepaar sitzt. Er ist – na sagen wir mal: extremstfüllig, sie normal. Na ja, was hier eben “normal” ist. Ich bin jedenfalls unnormal – mit meinem BMI von rund 20.

Holländer! Seit vierzig Jahren hier, aber: Holländer! Ich finde es fast schon aberwitzig, dass ein so kleines Land sich einem in der ganzen Welt immer wieder aufdrängt. Aber wir unterhalten uns wenigstens auf englisch. Na ja, die beiden sind ganz nett. Aber er frisst wirklich wie eine Maschine. Hat kaum die Möglichkeit, sich nach vorn zu beugen, da er dann mit seinem Bauch den Tisch verschieben würde. Er greift nach seinem Kaffeelöffel und dieser fällt ihm runter.

Jetzt wird’s spannend, denke ich. Statt auch nur den Anschein zu machen, sich bücken zu wollen, redet er seelenruhig weiter. Seine Frau bückt sich und hebt den Löffel auf. Und beide vermitteln den Eindruck, als sei genau das das Selbstverständlichste von der Welt. Er kann halt nicht und sie hilft ihm.

Fett sein als Behinderung. Selbst gemacht, selbst verschuldet. Toll. Was, wenn seine Frau auch nicht mehr kann? Wer hilft solchen Menschen dann eigentlich? Wird die Betreuung von den Krankenkassen bezahlt, also von mir? Himmel, ich als Finanzierer der Dekadenz der Überflussgesellschaft.

Manchmal finde ich die Idee sympathisch, unser Überleben hinge immer noch davon ab, ob wir das nächste Reh erlegen, um uns zu ernähren und davon, dass wir schneller als Bären und Wölfe sind, um nicht selbst gefressen zu werden.

Der Skeena River ist ein imposanter Fluss. Ich stehe auf der Brücke und schaue nach rechts, nach Westen.

Den Yellowhead bis Prince Rupert fahren? Ich überlege. Knapp 250 Kilometer eine Strecke. Und Einbahnstraße, also die gleiche Strecke wieder zurück. Und das Wetter am Pazifik ist unberechenbar. Ich kann die fünf Tage nicht erübrigen und biege links ab.

Auf dem Yellowhead Highway geht es wesentlich turbulenter zu als auf dem Cassiar. Kein Wunder – er verbindet zwei wirtschaftliche Knotenregionen miteinander: Das Fährterminal in Prince Rupert und die Holzindustrie-Zentrale in Prince George im Zentrum British Columbias.

Ein Schild warnt vor Hitchhiking, dem Fahren per Anhalter. Der Yellowhead hat zwischen den beiden genannten Orten auch den Beinamen “Highway of Tears” – in den letzten Jahren verschwanden dort über 30 Frauen oder wurden ermordet. Alle waren als Anhalterinnen unterwegs oder nahmen Anhalter mit.

Also: “Eastbound” geht’s weiter.

Die Landschaft ändert sich schnell. Teilweise habe ich den Eindruck, ich bin in den Alpen unterwegs. Die einsamen Brocken Alaskas und die rauhe Natur des Cassiar werden abgelöst durch alpines Gelände mit Bergen, Tälern, Wiesen, Weiden und Almen.

Und Zäunen. Spätestens die erinnern mich daran, dass ich wieder in der Zivilisation angekommen bin.

In Hazelton kaufe ich mal wieder ordentlich ein. Die Verkäuferin erzählt mir von einem Campground, der von den ‘Ksan Natives betrieben wird – in Eigenregie. Unten am Skeena River. Das reizt mich, den Umweg nehme ich gern in Kauf. Außerdem müsste ich mal wieder duschen und meine Wäsche waschen.

Mein Zelt baue ich dann auch tatsächlich auf dem Campground und direkt rund fünf Meter vom Skeena River entfernt auf. Aber eine Illusion wird mir genommen: Moskitofreiheit. Na ja, ich habe mich mittlerweile an die Insekten gewöhnt. Die Moskitos sind auch das kleinere Übel – im Gegensatz zu den Horseflies und den Blackflies.

Es gibt Nudeln mit frischen Paprika, Ingwer, Grounded Beef und Chili zum Abendessen. Lecker.

Einer meiner Lieblingsausrüstungsgegenstände ist mittlerweile mein Seiden-Inlett geworden. Ich freue mich jeden Abend, wenn ich da reinschlüpfe, über das wohlige, streichelnde Gefühl auf meiner Haut.

Morgen will ich mir das Dorf der Natives anschauen, das sie hier direkt neben dem Campground aufgebaut haben.

Ach, ich lasse nochmal meine Gedanken über die letzten siebenhundert Kilometer fliegen – über den Cassiar Highway und alle Erlebnisse, die ich dort sammeln konnte. Und schlafe sehr zufrieden ein.